Leitsatz
1. Eine bestandskräftige Aufhebung der Kindergeldfestsetzung im laufenden Kalenderjahr wegen der voraussichtlich den Jahresgrenzbetrag übersteigenden Einkünfte und Bezüge des Kindes (Prognoseentscheidung) kann nicht allein aufgrund geänderter Rechtsauffassung nach § 70 Abs. 4 EStG aufgehoben werden. Lagen bei der Prognoseentscheidung die Einkünfte und Bezüge des Kindes nur deshalb über dem Jahresgrenzbetrag, weil die Familienkasse entgegen der später ergangenen Rechtsprechung des BVerfG die Arbeitnehmerbeiträge des Kindes zur gesetzlichen Sozialversicherung als Einkünfte angesetzt hat, kommt daher eine Aufhebung nach Ablauf des Kalenderjahrs nicht in Betracht (Bestätigung der Rechtsprechung).
2. Hätten dagegen bei der Prognoseentscheidung die prognostizierten Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag auch nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge überschritten, ist der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG wieder eröffnet, wenn sich die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge gegenüber den prognostizierten Beträgen geändert haben.
3. In diesem Fall hat die Familienkasse bei der Prüfung nach Ablauf des Kalenderjahrs, ob die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge des Kindes gegenüber der Prognoseentscheidung in entscheidungserheblicher Weise abweichen, die geänderte Rechtsauffassung zur Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge zu beachten und die als Prognoseentscheidung ergangene bestandskräftige Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben, wenn die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge abzüglich der Sozialversicherungsbeiträge den Jahresgrenzbetrag nicht überschreiten.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 2, § 70 Abs. 4 EStG
Sachverhalt
Im Juni 2003 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für den volljährigen Sohn des Klägers auf, da er voraussichtlich Einkünfte und Bezüge über dem Grenzbetrag habe.
Im Mai 2004 beantragte der Kläger erneut Kindergeld für 2003 mit der Begründung, wegen nunmehr höherer nachgewiesener Werbungskosten sei die Einkünfte-/Bezügegrenze nicht überschritten.
Entscheidung
Der BFH gab, wie bereits das FG (EFG 2006, 752), dem Kläger recht. Die prognostizierten Einkünfte/Bezüge überschritten auch bei Abzug der Versicherungsbeiträge den Grenzbetrag. Der Aufhebungsbescheid vom Juni 2003 war daher – als Prognoseentscheidung – rechtmäßig. Dass der Grenzbetrag bei der endgültigen Beurteilung nach Jahresablauf nicht überschritten ist, beruht somit nicht auf einem materiellen Fehler der Familienkasse, sondern auf den tatsächlichen Änderungen aufgrund höherer nachgewiesener Werbungskosten. Damit war die Korrektur nach § 70 Abs. 4 EStG eröffnet.
Hinweis
Für ein volljähriges Kind besteht nur dann Anspruch auf Kindergeld, wenn dessen Einkünfte und Bezüge im Kalenderjahr den Jahresgrenzbetrag (im Streitjahr 2003: 7.188 €, ab 2004: 7.680 €) nicht überschreiten. Da das Kindergeld monatlich auszuzahlen ist, geht die Familienkasse für das laufende Jahr zunächst von einer Prognose der zu erwartenden Einkünfte und Bezüge aus. Die abschließende Prüfung kann regelmäßig erst nach Jahresablauf erfolgen. Denn erst dann steht objektiv fest, welche Zeiträume bei der Ermittlung des Grenzbetrags zu berücksichtigen sind und wie hoch die Einkünfte/Bezüge in diesen Zeitabschnitten gewesen sind.
Ergibt sich nach Jahresablauf, dass eine vor oder während des Kalenderjahrs ergangene Prognosefestsetzung wegen Über- oder Unterschreitens des Grenzbetrags unzutreffend war, eröffnet § 70 Abs. 4 EStG die rückwirkende Korrektur ab Jahresbeginn bzw. des Beginns des Berücksichtigungszeitraums. Dabei ist auf Folgendes hinzuweisen:
1. Der BFH hält an seiner Rechtsprechung fest, dass das nachträgliche Bekanntwerden vom Über- oder Unterschreiten des Grenzbetrags sich auf tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte/Bezüge bezieht, nicht auf eine etwa geänderte Rechtsauffassung zur Abziehbarkeit dem Kind entstandener Ausgaben. Deshalb führt allein die – von der früheren Rechtsprechung des BFH abweichende – Auffassung des BVerfG zur Minderung der Einkünfte des Kindes um die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge (BVerfG, Beschluss vom 11.1.2005, 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164) zu keiner Korrektur nach Jahresablauf (BFH, Urteil vom 28.11.2006, III R 6/06, BFH-PR 2007, 99).
2. Ergeben sich nachträglich tatsächliche Änderungen hinsichtlich der Einkünfte/Bezüge, z.B. höhere als bei der Prognose angenommene Werbungskosten, die dazu führen, dass der Grenzbetrag nicht überschritten ist, ist zu unterscheiden:
- Lagen die Einkünfte/Bezüge bei der Prognose – auch bei Abzug der Sozialversicherungsbeiträge – über dem Grenzbetrag, war die Prognoseentscheidung (Ablehnungs-, Aufhebungsbescheid) rechtmäßig (so im Streitfall). Das Nichtüberschreiten beruht hier nicht auf einem materiellen Fehler der Familienkasse, sondern auf tatsächlichen Änderungen hinsichtlich der Einkünfte/Bezüge. Unerheblich ist, wenn der Grenzbetrag nur dann eingehalten ist, wenn zusätzlich zu den höheren auf tatsächl...