Leitsatz
Hat ein Steuerpflichtiger nach einer Entscheidung des BVerfG für die Vergangenheit einen verfassungswidrigen Rechtszustand hinzunehmen und wird deshalb ein Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, so entspricht es regelmäßig billigem Ermessen, dem FA die Verfahrenskosten auch insoweit aufzuerlegen, als der Steuerpflichtige bezüglich des verfassungswidrigen Sonderopfers nicht hat obsiegen können.
Normenkette
§ 143 Abs. 1, § 138 Abs. 1 FGO
Sachverhalt
Die Kläger hatten den ESt-Bescheid 1987 angefochten. Sie begehrten insbesondere einen höheren Kinderfreibetrag. Die Klage wurde abgewiesen.
Nach Ergehen der Entscheidungen des BVerfG zum Familienleistungsausgleich und nach In-Kraft-Treten des § 53 EStG erließ das FA einen Änderungsbescheid, der zu einer Erstattung führte. Die Beteiligten erklärten daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
Entscheidung
Aufgrund der beiderseitigen Erledigungserklärungen sei nur noch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Die Kosten des Revisionsverfahrens seien dem FA aufzuerlegen. Die Kläger hätten hinsichtlich des sächlichen Existenzminimums im Umfang des § 53 EStG zwar nur teilweise obsiegt; hinsichtlich des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs hätten sie den Prozess aufgrund der erst u.a. ab 1.1.2000 angemahnten Neuregelungen jedoch verloren. Insoweit liege ein Sonderopfer der Kläger vor. Es widerspräche allgemeinem Gerechtigkeitsempfinden, dem Kläger auch insoweit die Kosten des sachgerecht geführten Verfahrens aufzuerlegen.
Hinweis
1. Hintergrund der Entscheidung: Das BVerfG hatte in verschiedenen Entscheidungen (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 11.11.1998, 2 BvL 42/93, BStBl II 1999, 174) erkannt, dass der (bisherige) einkommensteuerliche Familienlastenausgleich in mehrfacher Hinsicht mit dem GG unvereinbar war. Das BVerfG hatte jedoch die einschlägigen Normen (u.a. § 32 Abs. 6 EStG) – aus haushaltswirtschaftlichen Gründen – nicht für nichtig, sondern (nur) für unvereinbar erklärt. Es ordnete zugleich die befristete Weitergeltung der verfassungswidrigen Normen an und legte dem Gesetzgeber auf, binnen bestimmter Fristen verfassungsgemäße Regelungen herzustellen.
2. Aufgrund dieser Rechtslage mussten in der Folgezeit – sofern die Kläger auf einer Sachentscheidung beharrten – zahlreiche Klagen abgewiesen bzw. Revisionen zurückgewiesen werden; die Kläger hatten den verfassungswidrigen Familienleistungsausgleich für die Vergangenheit hinzunehmen.
3. In der Literatur wurde der sog. Unvereinbarkeitsrechtsprechung des BVerfG zum Teil heftig widersprochen. Es wurde u.a. geltend gemacht, es sei nicht nachvollziehbar, warum verfassungswidrige Normen vorübergehend weiter anwendbar sein sollten. Das Budget-Argument des BVerfG könne nicht überzeugen. Stelle das BVerfG fest, dass eine Norm verfassungswidrig ist, so dürfe diese Norm nicht weiter angewendet werden. Die Unterordnung der Grundrechte des Bürgers unter das "Diktat des Staatshaushalts" führe zu einer substanziellen Entwertung der Grundrechte.
4. Der VI. Senat hat mit dem Besprechungsbeschluss eine wegweisende Entscheidung zugunsten Verfassungsrechtsschutz suchenden Steuerpflichtigen getroffen, die wenigstens im Kostenrecht die Folgen der o.a. strittigen Rechtsfolge-Aussprüche des BVerfG abmildert. Denn es ist nicht nachvollziehbar und würde allgemeinem Rechtsempfinden widersprechen, vom Steuerpflichtigen für die o.a. Übergangszeit einen – vom BVerfG als verfassungswidrig bezeichneten – Steuerbetrag zu verlangen und ihn auch noch mit den Kosten des Gerichtsverfahrens zu belasten; dies obgleich das gerichtliche Verfahren bestätigt hat, dass er mit seiner Klage Erfolg gehabt hätte, wenn das BVerfG die einschlägige Norm für nichtig und nicht nur für mit dem Grundgesetz unvereinbar (verbunden mit einer Nachbesserungs-Forderung an den Gesetzgeber) erklärt hätte.
5. Die konträre Auffassung dahingehend, die Entscheidungen des BVerfG, die Verfassungswidrigkeit für eine Übergangszeit hinzunehmen, beträfen – u.a. wegen der in § 31 Abs. 2 BVerfGG ausgesprochenen Bindung – im Fall einer beiderseitigen Erledigungserklärung auch die Kostenfolge bzw. diese Kostenfolge habe sich (nur) an der materiellen Kostenfolge des § 135 Abs. 1 FGO zu orientieren, lässt den weiten Anwendungsbereich des § 138 Abs. 1 FGO außer Acht.
6. Bereits in seinem Beschluss vom 29.4.2003, VI R 140/90, BStBl II 2003, 719 hatte der VI. Senat ausgesprochen, dass sich die nach billigem Ermessen zu treffende Kostenentscheidung nicht ausschließlich am Gedanken des materiellen Kostenrechts orientieren muss, also nicht (nur) daran, wer bei einer Entscheidung über die Hauptsache die Kosten zu tragen hätte. Dem Gericht ist vielmehr ein weiter Spielraum eingeräumt, innerhalb dessen eine Ausrichtung am allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden maßgebend ist. Insbesondere kann in die Billigkeitsentscheidung auch der Gesichtspunkt der Veranlassung mit einfließen.
7. Hiervon ausgehend hat der VI. Senat erkannt, dass einem Steuerpflichtigen (bei sachgemäßer Proz...