Prof. Rolf-Rüdiger Radeisen
2.1 Sachverhalt
Steuerberater S hat im Juni 2022 begonnen, einen Neubau zu errichten, in dem er im Erdgeschoss seine Steuerberatungskanzlei unterbringen möchte. Im Obergeschoss plant er, mit seiner Familie einzuziehen; Erdgeschoss und Obergeschoss haben die gleiche Grundfläche. In 2022 sind ihm für Planungs- und Rohbaukosten insgesamt 400.000 EUR zzgl. 76.000 EUR USt berechnet worden. In seiner im März 2023 abgegebenen Umsatzsteuererklärung für 2022 hat er 50 % Vorsteuerabzug (38.000 EUR) geltend gemacht. Weitere Erklärungen hat S gegenüber dem Finanzamt nicht abgegeben, es ergibt sich auch aus anderen objektiven Nachweisen keine andere Zuordnungsentscheidung.
Nachdem S Anfang Juni 2023 erfahren hat, dass seine Frau Drillinge erwartet, hat er Zweifel, ob das Obergeschoss für seine Familie ausreichend groß ist. Er kann deshalb seinen Freund – Rechtsanwalt R – überzeugen, nach Fertigstellung des Gebäudes seine Rechtsanwaltskanzlei im Obergeschoss zu betreiben. Da er von seiner zuständigen Bauaufsichtsbehörde zeitnah eine Genehmigung für die Umnutzung erhält, ist die neue Nutzung während der Bauphase auch ohne große zusätzliche Kosten realisierbar. Absprachegemäß verzichtet er bei der Vermietung des Gebäudeteils an R auf die Steuerbefreiung.
Bis zur Fertigstellung und erstmaligen bestimmungsgemäßen Nutzung am 1.11.2023 werden S weitere Baukosten i. H. v. 1 Mio. EUR zzgl. 190.000 EUR USt berechnet. Die Umsatzsteuerbeträge macht S ab Juni 2023 in seinen Voranmeldungen in voller Höhe geltend.
Ordnungsgemäße Rechnungen für die einzelnen Leistungen liegen vor.
2.2 Fragestellung
S überlegt, welche umsatzsteuerrechtlichen Folgen sich für ihn in 2022 und 2023 ergeben und welche Handlungsoptionen sich für ihn ergeben hätten.
2.3 Lösung
S ist Unternehmer nach § 2 Abs. 1 UStG. In 2022 plant er, das von ihm zu errichtende Gebäude zu 50 % für seine unternehmerischen Zwecke und ansonsten für private Zwecke zu verwenden. Er hat damit ein Zuordnungswahlrecht; er kann das Gebäude ganz, gar nicht oder teilweise seinem Unternehmen zuordnen:
- Ordnet er das Gebäude gar nicht seinem Unternehmen zu, ergibt sich für ihn aus den bezogenen Leistungen kein Vorsteuerabzugsanspruch. Diese Variante wird keine wirtschaftlich sinnvolle Möglichkeit sein.
- Ordnet er das Gebäude seinem Unternehmen nur anteilig zu, ist er nur insoweit zum Vorsteuerabzug berechtigt, wie er das Gebäude dem Unternehmen zugeordnet hat. Ergibt sich in der Folgezeit (während des Vorsteuerberichtigungszeitraums von 10 Jahren) eine Verwendung für unternehmerische Zwecke in einem höheren Umfang, ist eine Vorsteuerberichtigung grundsätzlich ausgeschlossen. In diesem Fall könnte S nur 50 % der ihm 2022 berechneten Umsatzsteuerbeträge als Vorsteuer geltend machen (38.000 EUR).
- Ordnet er das Gebäude dem Unternehmen in vollem Umfang zu, ist er zwar nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG zum vollen Vorsteuerabzug für die empfangenen Leistungen berechtigt, da das Gebäude aber auch zum Teil für private Zwecke verwendet werden soll, ist der Vorsteuerabzug nur insoweit zulässig, wie das Gebäude für unternehmerische Zwecke verwendet werden soll. Auch in diesem Fall könnte S nur 50 % der ihm 2022 berechneten Umsatzsteuerbeträge als Vorsteuer geltend machen (38.000 EUR).
Mindestnutzung beachten
Mindestens muss das Gebäude aber zu 10 % für seine unternehmerischen (vorsteuerabzugsberechtigenden) Zwecke verwendet werden, damit der Unternehmer ein Zuordnungswahlrecht hat. Beträgt die unternehmerische Nutzung weniger als 10 %, kann er das Gebäude weder ganz noch teilweise seinem Unternehmen zuordnen (Zuordnungsverbot).
Unabhängig davon, ob S das Gebäude in 2022 vollständig oder nur teilweise dem Unternehmen zugeordnet hat, kann er nur 50 % der ihm berechneten Vorsteuerbeträge geltend machen (38.000 EUR), die Finanzverwaltung kann deshalb aus der Höhe der geltend gemachten Vorsteuer keine Rückschlüsse auf die Zuordnungsentscheidung ziehen. Damit gilt das Gebäude nur i. H. des geltend gemachten Vorsteuerabzugs als dem Unternehmen zugeordnet. Der nicht dem Unternehmen zugeordnete Teil (die für die private Verwendung geplanten 50 %) gilt als ein separater Gegenstand.
Zuordnungswahlrecht ausüben
S hätte aber bis zur gesetzlichen Abgabefrist der Jahressteuererklärung 2022 die Zuordnungsentscheidung durch einen objektiven Nachweis dokumentieren müssen, wenn er das Gebäude in vollem Umfang seinem Unternehmen zuordnen wollte. Wann er dann diese dokumentierte Zuordnungsentscheidung dem Finanzamt mitgeteilt hätte, ist nicht mehr von steuerrechtlicher Relevanz. Allerdings ist es bei der geplanten teilweisen Nutzung für die privaten Wohnzwecke fraglich, welche "objektiven Nachweise" in einem solchen Fall vorliegen sollten. Bauantragsunterlagen oder andere bautechnische Unterlagen werden dazu sicher keine Aussage treffen. Deshalb bleibt es für die Praxis dabei, dass die Zuordnungsentscheidung auch zeitnah gegenüber der Finanzverwaltung dokumentiert werden sollte, um spätere Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden. Die vollständ...