OFD Karlsruhe, Verfügung v. 29.7.2002, S 0351 A - St 412
Werden dem FA nach bestandskräftig durchgeführter Einkommensteuerfestsetzung vom Steuerpflichtigen nicht erklärte, dem Steuerabzug (Kapitalertragsteuer) unterworfene Kapitalerträge bekannt, ist nach folgenden Grundsätzen zu verfahren:
1. Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung nach § 173 AO
Die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge stellen neue Tatsachen im Sinne des § 173 AO dar, die zur Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO führen, wenn sich durch Erfassung der Kapitalerträge eine geänderte (höhere) Einkommensteuerschuld ergibt und noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist.
Die Steuerfestsetzung ist auch dann nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, wenn sich nach Anrechnung der Kapitalertragsteuer eine niedrigere verbleibende Einkommensteuerschuld und damit ein Steuererstattungsanspruch ergibt (s. AEAO zu § 173, Nr. 1.4).
2. Anrechnung der Kapitalertragsteuer
Die regelmäßig mit der Einkommensteuerfestsetzung verbundene Anrechnung der Steuerabzugsbeträge stellt einen selbstständigen Verwaltungsakt („Anrechnungsverfügung”) dar, der im Fall der Rechtswidrigkeit unter den Voraussetzungen der §§ 130 und 131 AO korrigiert werden kann (s. AO-Kartei § 218 Karte 1 Tz. 7.1;H 213c – Anrechnung – EStH 2001).
Eine Korrektur der Anrechnungsverfügung zur nachträglichen Berücksichtigung von Kapitalertragsteuer ist ohne Bindung an eine Frist zulässig (BFH-Urteil vom 18.7.2000, BStBl 2001 II S. 133; vgl. AO-Kartei § 218 Karte 1 Tz. 7.2). Aus den Vorschriften zur Zahlungsverjährung §§ 228 ff. AO) ergibt sich insoweit keine Einschränkung, da der Zahlungsverjährung nur festgesetzte und fällig gestellte Ansprüche unterworfen sind § 229 Abs. 1 AO).
Die von nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträgen einbehaltene Kapitalertragsteuer kann somit jederzeit – durch Korrektur der Anrechnungsverfügung zugunsten des Steuerpflichtigen nach § 130 Abs. 1 AO – nachträglich berücksichtigt werden. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nur zulässig ist, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt. Die nachträgliche Anrechnung der Kapitalertragsteuer scheidet deshalb aus, wenn die betreffenden Kapitalerträge wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr der Einkommensteuer unterworfen werden können.
Der nachträglichen Berücksichtigung der Kapitalertragsteuer steht § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht entgegen, wenn die Änderung der Einkommensteuerfestsetzung im Hinblick auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge unterbleibt, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen (unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge) den Werbungskosten-Pauschbetrag § 9a EStG) und den Sparer-Freibetrag § 20 Abs. 4 EStG) nicht übersteigen oder die Einkommensteuerschuld aus anderen Gründen – trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte – unverändert bleibt. Auch in solchen Fällen ist von der Erfassung der Kapitaleinkünfte im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auszugehen, weshalb – bei Vorlage der Steuerbescheinigung – die Kapitalertragsteuer auch in diesen Fällen noch nachträglich angerechnet werden kann.
Die Anwendung der 10-jährigen Festsetzungsfrist setzt voraus, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung § 370 AO) objektiv und subjektiv erfüllt ist (Hinweis auf AO-Kartei § 169 Karte 1 Tz. 1). Er ist im vorliegenden Zusammenhang in objektiver Hinsicht stets dann erfüllt, wenn die Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge zu einer höheren Einkommensteuerschuld führt. Die Steuer ist im Sinne des § 370 Abs. 1 AO auch dann verkürzt, wenn die auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge entfallende anrechnungsfähige Kapitalertragsteuer den Einkommensteuer-Mehrbetrag, der sich bei Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge ergibt (Unterschiedsbetrag zwischen alter und neuer Einkommensteuerschuld), übersteigt, also auch in Fällen, in denen die Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung auf Grund der anzurechnenden Kapitalertragsteuer zu einer Steuererstattung führt.
Ob der Tatbestand der Steuerhinterziehung in subjektiver Hinsicht – auf Grund vorsätzlichen Handelns des Steuerpflichtigen – erfüllt ist, muss jeweils nach den Verhältnissen des Einzelfalles entschieden werden (Hinweis auf AO-Kartei § 169 Karte 1 Tz. 2 und 3).
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1