Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
1. Die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 8 der Abgabenordnung (AO) wird auch dann beendet, wenn der Vorläufigkeitsvermerk vom Finanzamt aufgehoben wird. Auf den Wegfall der Ungewissheit und die Kenntnis des Finanzamts von den Tatsachen, wegen derer die Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig erging, kommt es dann für die Beendigung der Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist nicht mehr an.
2. Vor der Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks dem Grunde nach entstandene Nachlassverbindlichkeiten, die erst danach beziffert und konkretisiert werden, führen nicht zu einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Das gilt auch dann, wenn das Finanzamt erst nach Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks Kenntnis von den Nachlassverbindlichkeiten erlangt.
Normenkette
§ 165 Abs. 1 Satz 1, § 169 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1, § 173 Abs. 1, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, § 10 Abs. 5 Nr. 2, Nr. 3 Satz 1 ErbStG
Sachverhalt
Die Klägerin war Alleinerbin ihres 2005 verstorbenen Großvaters (Erblasser). Sie gab am 31.5.2007 eine ErbSt-Erklärung ab.
Der Erblasser hatte zu seinen Lebzeiten eine Liechtensteiner Stiftung errichtet und dieser Vermögen übertragen. In dem Reglement betreffend die Begünstigungen aus dem Stiftungsvermögen wurde unter anderem festgelegt, dass der Erblasser zu seinen Lebzeiten Erstbegünstigter bezüglich des gesamten Stiftungsvermögens und ‐einkommens sein sollte, was das freie Verfügungsrecht über das ganze Vermögen und jegliche Einkünfte der Stiftung umfasste. In Bezug auf den Betrag sowie den Zeitpunkt der Zahlung von Stiftungsvermögen hatte der Stiftungsrat ausschließlich gemäß den Weisungen des Erblassers zu handeln.
Der Erblasser hatte testamentarisch seinen Sohn, den Vater der Klägerin, zum alleinigen Vorerben eingesetzt und die Klägerin zur alleinigen Nacherbin. Der Vater der Klägerin schlug die Erbschaft aus. Im Hinblick auf die Vermögensausstattung der Liechtensteiner Stiftung machte er gegenüber der Stiftung Pflichtteilsergänzungsansprüche nach § 2329 BGB geltend. In einem nachfolgenden Rechtsstreit durch sämtliche Liechtensteiner Gerichtsinstanzen wurde die Stiftung vom Liechtensteiner Fürstlichen Obersten Gerichtshof am 5.7.2013 verurteilt, einen Betrag i.H.v. X EUR zuzüglich Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.10.2006 an den Vater der Klägerin zu zahlen sowie die über die Instanzen hinweg entstandenen Verfahrenskosten zu erstatten. Ein unmittelbar nachfolgendes im Jahr 2013 abgeschlossenes Beschwerdeverfahren der Stiftung vor dem Liechtensteiner Staatsgerichtshof hatte keinen Erfolg. Es erfolgte im Nachgang eine Zwangsvollstreckung in das bei einer Schweizer Bank befindliche Konto der Stiftung. Der Vater der Klägerin erhielt hieraus einen Betrag, der dem verbliebenen Stiftungsvermögen entsprach.
Das FA setzte mit Bescheid vom 5.11.2010 ErbSt gegen die Klägerin fest. Dabei erfasste es die Liechtensteiner Stiftung als sonstigen Vermögenswert des Nachlasses und den Pflichtteilsergänzungsanspruch des Vaters der Klägerin als Erbfallschuld. Der Bescheid enthielt einen Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 AO wegen der Höhe des Pflichtteilsanspruchs.
Mit Schreiben vom 16.5.2014 fragte das FA bei der Klägerin nach, ob sich die Höhe des Pflichtteilsergänzungsanspruchs des Vaters geändert habe. Da vonseiten der Klägerin keine Reaktion auf diese Nachfrage erfolgte, erklärte das FA mit Bescheid vom 4.8.2014 den ErbSt-Bescheid vom 5.11.2010 für endgültig.
Mit Schreiben vom 29.7.2015 informierte die Klägerin das FA über die Beendigung der Rechtsstreitigkeiten in Liechtenstein bezüglich des Pflichtteilsergänzungsanspruchs des Vaters und beantragte eine Korrektur des ErbSt-Bescheids dahin gehend, den von den Liechtensteiner Gerichten dem Vater der Klägerin zuerkannten Betrag und die Prozesskosten in voller Höhe als Nachlassverbindlichkeiten zu berücksichtigen. Mit Bescheid vom 9.11.2015 lehnte das FA eine Änderung des ErbSt-Bescheids mit der Begründung ab, dass die Festsetzungsfrist abgelaufen sei.
Die nachfolgende Klage hatte teilweise Erfolg (FG Münster, Urteil vom 4.2.2021, 3 K 1941/16 Erb, Haufe-Index 14374707). Das FG kam zu dem Ergebnis, dass das FA zwar nicht verpflichtet gewesen sei, eine Änderung der ErbSt-Festsetzung im Hinblick auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch des Vaters der Klägerin vorzunehmen, weil die Festsetzungsfrist insoweit im Zeitpunkt der Beantragung der Änderung bereits abgelaufen gewesen sei. Etwas anderes gelte jedoch für die Prozesszinsen und Gerichtskosten, die bei den Rechtsstreitigkeiten der Stiftung mit dem Vater der Klägerin angefallen seien, da insoweit ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO vorliege. Die Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks stehe dem nicht entgegen.
Entscheidung
Die Revision des FA war begründet. Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben und die Klage insgesamt zurückgewiesen.
Hinweis
1. Bei den von der Klägerin geltend gemac...