Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Der Finanzbehörde gilt nur der Inhalt der Akten als bekannt, die in der zuständigen Dienststelle für den zu veranlagenden Steuerpflichtigen geführt werden. Tatsachen, die sich aus den Akten anderer Steuerpflichtiger ergeben, gelten auch dann nicht als bekannt, wenn für deren Bearbeitung dieselbe Person zuständig ist.
2. Eine Änderung wegen neuer Tatsachen ist ausgeschlossen, wenn die Tatsache dem Sachbearbeiter zum maßgeblichen Zeitpunkt bekannt war oder bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre (Bestätigung der Rechtsprechung).
Normenkette
§ 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 129 AO
Sachverhalt
K machte mit ihrer beim FA vom 22.10.2001 eingereichten ESt-Erklärung Unterhaltsaufwendungen für ihren Sohn S als außergewöhnliche Belastungen geltend: S lebe als Student in Frankreich mit Ehefrau und zwei Kindern. K teilte die Einkünfte des S (31.047 DM) auf vier Personen auf und gab sie nur in Höhe von 7.762 DM an. Sachbearbeiter X veranlagte K am 24.10.2001 und berücksichtigte die Unterhaltsaufwendungen für S (eigene Einkünfte 7.762 DM). S hatte seine ESt-Erklärung am 9.10.2001 beim selben FA abgegeben und wurde am 29.10.2001 ebenfalls von X veranlagt; danach betrug der Gesamtbetrag der Einkünfte 31.047 DM. Am 19.12.2002 änderte das FA Ks Bescheid u.a. nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, indem es nun wegen der Höhe der Einkünfte des S die Unterhaltsaufwendungen nicht mehr zum Abzug zuließ; eine andere Änderung stützte es auf § 129 AO. Das FG wies die Klage dagegen ab (FG des Saarlandes, Urteil vom 14.10.2010, 1 K 1503/08, Haufe-Index 2602429).
Entscheidung
Der BFH hob aus den in den Praxis-Hinweisen erläuterten Erwägungen die Vorentscheidung auf und verwies die Sache an das FG zurück.
Hinweis
Zur Änderungsmöglichkeit nach § 129 AO (offenbare Unrichtigkeit), die hier auch streitig war, wird auf das jüngste Senatsurteil verwiesen (BFH, Urteil vom 8.12.2011, VI R 45/10, BFH/NV 2012, 694). Der Schwerpunkt des Urteils liegt in der Frage, ob die Tatsache, dass S doch höhere Einkünfte hatte, für das FA neu war. Denn immerhin wurden S und seine Eltern in derselben Woche vom selben Sachbearbeiter veranlagt.
1. I. S. d. § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO kommt es nicht auf die Kenntnis der Finanzbehörde als solche an, sondern auf die Kenntnis der zur Bearbeitung organisatorisch berufenen Dienststelle. Unabhängig vom konkreten Kenntnisstand des Sachbearbeiters gilt als bekannt, was sich aus den dort geführten Akten ergibt; auch Informationen vorgesetzter Dienststellen gehören dazu (BFH, Urteil vom 13.1.2011, VI R 61/09, BFH/NV 2011, 883, BFH/PR 2011, 205). Dieser Akteninhalt gilt als bekannt und kann deshalb nicht mehr nachträglich bekannt werden. Allerdings gelten Tatsachen aus Akten anderer Steuerpflichtiger nicht als bekannt, und zwar auch, wenn derselbe Sachbearbeiter für diese Personen zuständig ist. Insoweit ist die Kenntnisfiktion beschränkt. Das heißt aber nicht, dass solche Tatsachen nicht dennoch bekannt sein können. Dann kommt es allerdings auf das tatsächliche berufliche (nicht private!) Wissen der für die Bearbeitung des Streitfalls organisatorisch berufenen Personen an; das sind regelmäßig der Sachbearbeiter, der Sachgebietsleiter und der Vorsteher.
2. Angesichts dieser Grundsätze galt hier zwar nicht die Kenntnisfiktion. Aber es war nicht ausgeschlossen, dass der Sachbearbeiter tatsächlich noch Kenntnis von den verwandtschaftlichen Beziehungen und der Höhe der Einkünfte des S hatte. Dann könnte eine unterlassene Beiziehung der Akten eine Verletzung der Ermittlungspflicht nach sich ziehen und das Wissen zuzurechnen sein. Insoweit bestand noch Aufklärungsbedarf; deshalb verwies der BFH die Sache an das FG zurück.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 13.6.2012 – VI R 85/10