Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. § 9 Abs. 2 S. 1 und S. 2 des EStG in der seit Inkrafttreten des Steueränderungsgesetzes 2007 vom 19.07.2006 (BGBl I 1652) geltenden Fassung ist mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.
2. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung ist § 9 Abs. 2 S. 2 des EStG im Weg vorläufiger Steuerfestsetzung (§ 165 AO) sowie entsprechend im LSt-Verfahren, hinsichtlich der ESt-Vorauszahlungen und in sonstigen Verfahren, in denen das zu versteuernde Einkommen zu bestimmen ist, mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatbestandliche Beschränkung auf "erhöhte Aufwendungen ab dem 21. Entfernungskilometer" entfällt.
Normenkette
§ 9 Abs. 2 S. 1 und S. 2 EStG, Art. 3 Abs. 1 GG
Sachverhalt
Die Vorlagen an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG nahmen ihren Ausgang in einer lohnsteuerrechtlichen Streitfrage: Die Kläger der finanzgerichtlichen Ausgangsverfahren wollten in den LSt-Karten Freibeträge für ihre Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte eintragen lassen. Auf Grundlage der ab 2007 geltenden Entfernungspauschale war dies nur für deren Aufwendungen ab dem 21. Entfernungskilometer möglich.
Neben anderen FGen beurteilte auch der BFH (BFH/PR 2008, 105) diese Einschränkung als verfassungswidrig und legte dem BVerfG seine Rechtsauffassung zur verfassungsrechtlichen Prüfung vor.
Entscheidung
Das BVerfG entschied wie aus Leitsatz 1 und den Praxis-Hinweisen ersichtlich, dass die ab 2007 geltende Entfernungspauschale verfassungswidrig ist. Darüber hinaus ordnete es bis zu einer gesetzlichen Neuregelung an, dass die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ab dem ersten Entfernungskilometer abziehbar sind (2. Leitsatz).
Hinweis
Das BVerfG bestätigte die u.a. in den Vorlagebeschlüssen des VI. Senats des BFH (vom 10.01.2008, VI R 17/07 BFH/NV 2008, 469, VI R 27/07, BFH/NV 2008, 377, BFH/PR 2008, 105) vertretene Auffassung, dass die Abschaffung der Entfernungspauschale verfassungswidrig ist, und gab dem Gesetzgeber auf, die Neuregelung rückwirkend vorzunehmen.
1. Für den Bereich des ESt-Rechts gelten die bekannten aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Rechtsmaßstäbe des BVerfG: Danach sei die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers insbesondere durch zwei Leitlinien begrenzt, nämlich durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit. Ausnahmen von dem Gebot folgerichtiger Umsetzung und Konkretisierung der steuergesetzlichen Belastungsentscheidungen lässt das BVerfG zu für außerfiskalische Förderungs- und Lenkungszwecke sowie für Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse, aber nicht für rein fiskalische Zwecke.
2. Das BVerfG ließ ein weiteres Mal offen, ob dem objektiven Nettoprinzip selbst Verfassungsrang zukommt. Das objektive Nettoprinzip sei aber jedenfalls eine Grundentscheidung und ein Ausgangstatbestand der ESt, sodass Ausnahmen von der damit getroffenen Belastungsentscheidung und dessen folgerichtiger Umsetzung besonderer sachlich rechtfertigender Gründe bedürfen. Das BVerfG betonte weiter seine im Beschluss zur doppelten Haushaltsführung (BVerfG, Beschluss vom 04.12.2002, 2 BvR 400/98, BFH/NV Beilage 2003, 174, BFH/PR 2003, 249) entwickelte differenzierende Sichtweise, nach der es nicht nur auf die Unterscheidung zwischen beruflicher und privater Veranlassung, sondern auch auf die zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem, pflichtbestimmten Aufwand andererseits ankomme.
3. Auf dieser verfassungsrechtlichen Grundlage gelangt das BVerfG sodann in fünf Schritten zu dem Ergebnis, dass die Entfernungspauschale nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine folgerichtige Umsetzung der einkommensteuerrechtlichen Belastungsentscheidung genügt.
(1.) Sie weiche als singuläre Regelung vom einkommensteuerrechtlichen Nettoprinzip ab, denn das Werkstorprinzip sei außerhalb der Entfernungspauschale ein Fremdkörper im geltenden ESt-Recht.
(2.) Der Zweck der Erhöhung staatlicher Einnahmen rechtfertige nicht, eine einzelne Aufwendungsart aus dem Werbungskostentatbestand auszugrenzen.
(3.) Förderungs- oder Lenkungsziele könnten die Entfernungspauschale nicht rechtfertigen; insoweit fehle es schon an der verfassungsrechtlich gebotenen erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung.
(4.) Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte dürften zwar von Verfassungs wegen als privat mitveranlasst qualifiziert werden. Die dagegen im steuerrechtlichen Schrifttum und vom BFH (BFH/PR 2008, 105) geäußerte Kritik differenziere nicht hinreichend zwischen den einfachgesetzlichen Regelungen (§§ 4, 9, 12 Nr. 1 EStG) und der "verfassungsrechtlich zulässigen Gewichtung multikausaler und multifinaler Wirkungszusammenhänge" im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre. Deshalb habe der Gesetzgeber erhebliche gesetzgeberische Typisierungsspielräume für die einkommensteuerliche Behandlung von Wegekosten. Aber selbst daran gemessen werde die konkrete Regelung den verfassungsrechtlichen Anforderunge...