Entscheidungsstichwort (Thema)
Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren in Pandemiezeiten (Aktenübersendung in die Kanzleiräume)
Leitsatz (redaktionell)
Keine Übersendung der Akten in Kanzleiräume in Pandemiezeiten, wenn das FG seine Diensträume unter Beachtung der Hygiene- und Abstandsregeln für die Einsichtnahme in die Gerichts- und Steuerakten eröffnet.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1, 3
Gründe
I.
Nachdem die Prozessbevollmächtigte des Klägers Akteneinsicht beantragt und das Gericht die Steuerakten antragsgemäß an das Finanzgericht Münster zur Durchführung der Akteneinsicht übersandt hatte, beantragte die Prozessbevollmächtigte unter Hinweis auf den BFH-Beschluss vom 13. Juni 2020 zum Aktenzeichen VIII B 149/19 und den Beschluss des Finanzgerichts Hamburg vom 1. Februar 2018 zum Aktenzeichen 4 K 136/20 im Hinblick auf die anhaltende Corona-Pandemie Aktenübersendung in ihre Kanzleiräume.
II.
1. Der Antrag auf Akteneinsicht in den Kanzleiräumen der Prozessbevollmächtigten ist unbegründet. Es entspricht auch im derzeitigen Stadium der COVID-19-Pandemie pflichtgemäßem Ermessen, der Prozessbevollmächtigten die den Streitfall betreffenden Akten zur Einsicht in Diensträumen zur Verfügung zu stellen.
a) Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) können die Beteiligten die Gerichtsakte und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen. Die Vorschrift gewährt den Beteiligten des finanzgerichtlichen Verfahrens ein umfassendes Recht auf Akteneinsicht als wesentlichem Bestandteil des in Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes verbürgten Anspruchs auf rechtliches Gehör. Allerdings wird die Akteneinsicht gem. § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO, wenn die Gerichts- und Steuerakten – wie vorliegend – in Papierform geführt werden, nur durch Einsichtnahme in Diensträumen gewährt. Die Kanzleiräume der Prozessbevollmächtigten sind jedoch keine Diensträume im Sinne des § 78 Abs. 3 FGO (vgl. BFH-Beschluss vom 13. Juni 2020 VIII B 149/19, BFH/NV 2020, 1268 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
aa) Insoweit erscheint es dem beschließenden Senat - wie schon dem III. Senat des Bundesfinanzhofs - zweifelhaft, ob auch nach Einführung der vorstehend genannten Bestimmung in § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO überhaupt noch ausnahmsweise eine Aktenübersendung in Kanzleiräume in Betracht kommt. Denn der Wortlaut der Vorschrift deutet keinen Ermessensspielraum an. Die Finanzgerichtsordnung weicht insoweit von anderen Verfahrensordnungen ab (vgl. hierzu § 100 Abs. 3 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung, § 120 Abs. 3 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes, § 32 f Abs. 2 Satz 3 der Strafprozessordnung). Der Gesetzgeber hat mit der Einengung des Orts der Einsichtnahme auf Diensträume den Streit über die Versendung der Akten in die Kanzlei eines Prozessbevollmächtigten gerade beseitigen wollen (vgl. BFH-Beschluss vom 6. September 2019 III B 38/19, BFH/NV 2020, 91).
bb) Demgegenüber soll aber nach Auffassung des VIII. und X. Senats des Bundesfinanzhofs auch unter Geltung der Neufassung des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO in eng begrenzten Ausnahmefällen zur Gewährung rechtlichen Gehörs und aus Gründen der Waffengleichheit der Beteiligten ein Anspruch auf Einsicht in Papierform geführte Akten in den Geschäftsräumen eines Prozessbevollmächtigten bestehen. Wann ein solcher Ausnahmefall anzunehmen sei, hänge von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die Entscheidung darüber, ob ausnahmsweise eine Akteneinsicht durch Übersendung der Akten in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten zu gewähren ist, sei eine Ermessensentscheidung des Gerichts. Für die Art und Weise der Anwendung des Ermessens sei der vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 FGO gesteckte Ermessensrahmen zu beachten. Die gegen eine Aktenversendung sprechenden Umstände - wie zum Beispiel die Gefahr von Aktenverlusten, insbesondere wenn diese potentielle Beweismittel wie zum Beispiel Steuererklärungen mit Originalbelegen enthalten, die Gefahr der Verletzung des Steuergeheimnisses, die Einschränkung der Verfügbarkeit der Akten für die Bearbeitung im Gericht und die Gefahr von Aktenbeschädigungen bzw. -manipulationen - sei gegen die vom Antragsteller vorgetragenen, eine Ausnahme rechtfertigenden Umstände abzuwägen. Soweit im Regelfall die Akteneinsicht in Diensträumen zu gewähren sei, während die Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten lediglich eine durch besondere Umstände des Einzelfalls gebotene Ausnahme darstelle, folge hieraus aber auch, dass Erschwernisse, die regelmäßig mit der Akteneinsicht außerhalb der Kanzleiräume verbunden sein können, keine Ausnahme von der Regel zu rechtfertigen im Stande seien (vgl. zu alledem BFH-Beschlüsse vom 28. November 2019 X B 132/19, BFH/NV 2020, 779, und vom 4. Juli 2019 VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235).
b) Nach diesen Grundsätzen kommt die Übersendung der den Streitfall betreffenden Akten in die Kanzlei der Prozessbevollmächtigten nicht in Betracht. Es kann dabei offenbleiben, ob seit der Einführung der Regelung in § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO überhaupt noch Ausnahmen...