vorläufig nicht rechtskräftig
Revision zugelassen durch das FG
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld: In Deutschland wohnender polnischer Staatsbürger mit Kind in Polen
Leitsatz (redaktionell)
- Ein polnischer Staatsbürger, der in Deutschland seinen Wohnsitz hat und ALG II bezieht, hat einen Kindergeldanspruch für seine in Polen im Haushalt der mit ihm nicht verheirateten Kindsmutter untergebrachtes Kind.
- Hat der Kl. in Deutschland seinen Wohnsitz und bezieht er hier ALG II-Leistungen, so unterliegt er den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates Deutschland.
- Die Prioritätsregeln gemäß Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 sind nicht anwendbar, wenn ein Anspruch auf Familienleistungen in Polen nicht besteht und diese auch nicht gezahlt werden.
- Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009, wonach alle beteiligte Personen unter die deutschen Rechtsvorschriften fallen und in Deutschland wohnen, gilt nur für Familienangehörige, nicht aber für die unverheiratete Kindesmutter in Polen.
Normenkette
EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 1; EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, §§ 62-63; EGV 883/2004 Art. 68
Streitjahr(e)
2010
Tatbestand
Streitig ist, ob die beklagte Behörde die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind J ab August 2010 zu Recht aufgehoben hat.
Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Nach Aktenlage ist er seit dem 3. November 1998 in Deutschland angemeldet und unterliegt der deutschen Sozialversicherung (vgl. Beschluss des Marschallamtes der westpommerischen Woiwodschaft vom 16. März 2010). Er war zunächst in Deutschland sozialversicherungspflichtig als Arbeitnehmer beschäftigt. Im streitbefangenen Zeitraum ab September 2008 erhielt er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 19 SGB II (Arbeitslosengeld II). Die Tochter des Klägers, J, geboren am 23. Januar 2002, lebt bei der vom Kläger getrennt lebenden Kindesmutter (Frau D G-L) in Polen. Nach Aktenlage ist die Kindesmutter seit dem 1. Januar 2009 arbeitslos. Der Kläger und die Kindesmutter sind nicht verheiratet. Der Kläger zahlt freiwillig Kindesunterhalt. Wegen eines fehlenden Unterhaltstitels erhält die Kindesmutter, die von der zuständigen polnischen Behörde für Familienleistungen als unverheiratete, alleinerziehende Person angesehen wird, in Polen keine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Familienleistungen.
Mit Bescheid vom 23. Juli 2011 hob die beklagte Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind J ab August 2010 auf. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass das Kind in Polen lebe und in den Haushalt der Kindesmutter aufgenommen sei. Damit erfülle der Kläger ab August 2010 nicht mehr die Voraussetzungen für die Festsetzung von Kindergeld.
Der hiergegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg.
Mit der vorliegenden Klage verfolgt der Kläger sein Begehren auf Festsetzung des Kindergeldes für seine Tochter J weiter. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen Folgendes vor: Entgegen der Auffassung der Beklagten habe der Kläger einen Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter J. Der Anspruch auf Kindergeld sei auch nicht aufgrund des § 64 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ausgeschlossen. Die Voraussetzungen dieser Kollisionsvorschrift seien nicht vorliegend, da die Kindesmutter überhaupt keinen Anspruch auf deutsches Kindergeld habe. Es sei zwar richtig, dass im Falle eines Doppelanspruches vorrangig Leistungen im Wohnsitzstaat des Kindes zu leisten seien und in Deutschland evtl. nur ergänzend Kindergeld geleistet werden müsse. Die Kindesmutter habe jedoch in Polen keinen Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen. Auch nach der neuen Verordnung (EG) 883/2004 und 987/2009 ergebe sich nichts anderes. Nach dieser am 1. Mai 2010 in Kraft getretenen VO sei zwar bei der Beurteilung eines Anspruches auf Familienleistungen die Situation der gesamten Familie zu berücksichtigen, so als ob alle Familienmitglieder unter die Rechtsvorschriften des zuständigen Staates fallen. Die Zielsetzung der Verordnung bestehe jedoch nicht darin, dass der Anspruch des bisher nach den nationalen Vorschriften Berechtigten entfalle, wenn gleichzeitig bei fiktiver Annahme des ständigen Aufenthalts der weiteren Familienangehörigen im Beschäftigungsland, hier also der in Polen lebenden Kindesmutter, bestehen würde.
Der Kläger beantragt,
den Ablehnungsbescheid vom 23. Juli 2010 sowie den Einspruchsbescheid vom 17. August 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger Kindergeld für seine Tochter J für August 2010 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Hintergrund für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung sei die geänderte Rechtslage seit Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 883/2004 und deren Durchführungsverordnung VO (EG) Nr. 987/2009 zum 1. Mai 2010. Der Anspruch des Klägers sei danach gemäß § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG i.V.m. § 2 Abs. 4 BKGG ausgeschlossen. Das Kind J lebe nicht in dem Haushalt des Klägers, sondern in dem Haushalt der Kindesmutter in Polen. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 (VO/EG) Nr. 987/2009 sei bei der Anwendun...