rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Verfahrensruhe wegen anhängigen Beschwerdeverfahrens beim EGMR
Leitsatz (redaktionell)
- Zu der Frage, wann ein Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO ruht.
- Der EGMR ist kein Europäischer Gerichtshof i. S. des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO.
Normenkette
AO § 363
Streitjahr(e)
2010
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Beklagte (das Finanzamt -FA-) berechtigt war, über einen Einspruch des Klägers zu entscheiden oder ob das Einspruchsverfahren nach § 363 der Abgabenordnung (AO) hätten ruhen müssen.
Die Kläger sind Eheleute und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielt unter anderem als Arzt Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit. Mit Bescheid vom 12. Dezember 2011 veranlagte das Finanzamt die Kläger erklärungsgemäß zur Einkommensteuer 2010.
Mit Einspruch vom 3. Januar 2012 macht der Kläger Rechtsbedenken dagegen geltend, dass „normale” Steuerpflichtige für eine Freistellung ihrer Einkünfte den Nachweis sämtlicher beruflicher oder betrieblicher Aufwendungen erbringen müssten, während Bundestagsabgeordnete ohne Nachweis eine steuerfreie Aufwands-/Kostenpauschale in Höhe von ca. 30 % ihrer Gesamtbezüge erhielten. Dies stelle Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der europäischen Menschrechtskonvention (EMRK) sowie das Recht auf Schutz des Eigentums gem. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot aus Artikel 14 EMRK dar. Diesbezüglich seien zwei entsprechende Beschwerden beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unter den Aktenzeichen 7258/11 und 7227/11 anhängig. Diese Verfahren seien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und nach Artikel 46 EMRK für alle gleichgelagerten Fälle in Deutschland von Bedeutung. Weiterhin erklärten sich die Kläger mit einem Ruhen des Einspruchsverfahrens gem. § 363 Abs. 2 Satz 1 AO aus Zweckmäßigkeitsgründen einverstanden.
Das FA stellte die Erledigung der Einsprüche unter Hinweis auf gleichgelagerte Verfahren beim Bundesfinanzhof (BFH) unter den Aktenzeichen X B 182 - 184/11 zurück. Nachdem diese Nichtzulassungsbeschwerden durch Beschlüsse vom 10. Mai 2012 als unbegründet zurückgewiesen worden waren, teilte das FA den Klägern mit, dass das Einspruchsverfahren nunmehr fortgeführt werde, da ein weiteres Ruhen des Verfahrens weder nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO noch nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO gerechtfertigt sei. Auch sei die Rechtsfrage, ob die Abgeordnetenpauschale auf alle Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit anzuwenden sei, bereits abschlägig entscheiden; dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerden seien vom BVerfG als unbegründet zurückgewiesen worden.
In ihrem Antwortschreiben vom 28. August 2012 äußerten die Kläger ihr Unverständnis, warum die Finanzverwaltung die Urteile des EGMR in dieser Angelegenheit nicht abwarten könne. Weitere Anträge stellten die Kläger im Einspruchsverfahren nicht. Daraufhin wies das FA den Einspruch am 18. September 2012 als unbegründet zurück. In der Einspruchsentscheidung führt das Finanzamt aus, dass die beantragte steuerfreie Kostenpauschale nicht gewährt werden könne und ein weiteres Ruhen des Verfahrens wegen der beim EGMR anhängigen Verfahren weder nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO noch nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO in Betracht komme.
Mit der hiergegen erhobenen Klage begehren die Kläger die Aufhebung der Einspruchsentscheidung und eine Verpflichtung des FA, dass Einspruchsverfahren ruhen zu lassen. Zur Begründung berufen sich die Kläger im Klageverfahren erstmals auf die beim BFH anhängigen Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren mit den Aktenzeichen VI B 99/12 und VI B 101/12. Gegenstand dieser Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren sei die Frage, ob das Ruhen von Einspruchsverfahren anzuordnen sei, wenn die streitige Rechtsfrage im Rahmen eines Musterbeschwerdeverfahrens beim EGMR anhängig sei. Die Kläger sind der Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine Zwangsruhe und eine Zweckmäßigkeitsruhe von entsprechenden Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AO nunmehr im Hinblick auf die Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren beim BFH erfüllt seien.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
die Einspruchsentscheidung zur Einkommensteuer 2010 vom 18. September 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dass Einspruchsverfahren bis zur Entscheidung des EGMR in den Verfahren 7227/11 und 7258/11 ruhen zu lassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält an seiner in der Einspruchsentscheidung vertretenen Rechtsauffassung fest.
Entscheidungsgründe
I. Die Klage ist unbegründet. Die angefochtene Einspruchsentscheidung ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung -FGO-). Das FA war nicht verpflichtet, den Einspruch bis zur Entscheidung des EGMR in den Verfahren 7227/11 und 7258/11 ruhen zu lassen.
1. Das FA durfte die angefochtene Einspruchsentscheidung erlassen. Das Einspruchsverfahren ruh...