Leitsatz
1. Führt das FG die Prozessakten in Papierform, wird Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in den Diensträumen gewährt.
2. Die Übersendung von Akten in die Kanzleiräume eines Prozessbevollmächtigten zum Zwecke der dortigen Einsichtnahme bleibt auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt. Dabei ist die Entscheidung, Akteneinsicht ausnahmsweise außerhalb von Diensträumen zu gewähren, eine nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilende Ermessensentscheidung des FG.
3. Hat das FG bei seiner Entscheidung die für und die gegen eine Akteneinsicht in den Kanzleiräumen sprechenden Gründe hinreichend berücksichtigt und gegeneinander abgewogen, kann sich die Versagung der Akteneinsicht in den Kanzleiräumen auch unter Berücksichtigung der besonderen Pandemielage als ermessensfehlerfrei erweisen.
Normenkette
§ 78 Abs. 1 und 3 FGO
Sachverhalt
Zum Antrag des Klägers, Einsicht in die Verwaltungsakte durch Übersendung in seine Kanzleiräume zu gewähren, was wegen der Corona-Epidemie geboten sei, verwies das FG den Kläger auf die hilfsweise beantragte Akteneinsicht in der Geschäftsstelle des FG und lehnte den Antrag des Klägers auf Akteneinsicht mittels Übersendung der Akten in dessen Kanzleiräume ab. Auch im derzeitigen Stadium der Covid-19-Pandemie entspreche es pflichtgemäßem Ermessen, dem Kläger die den Streitfall betreffenden Akten nur in den Diensträumen des FG zur Verfügung zu stellen. Das FG verfüge über ein umfassendes Hygienekonzept, um die Gesundheit von Besuchern und Gerichtsangehörigen zu schützen (Niedersächsisches FG, Urteil vom 27.5.2020, 5 K 81/20, Haufe-Index 14672488).
Entscheidung
Der BFH bestätigte die Entscheidung des FG, da es nicht zu beanstanden sei, dem Kläger keine Akteneinsicht in seinen Kanzleiräumen zu gewähren.
Hinweis
1. Nach § 78 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen. Die Akteneinsicht wird, wenn die Prozessakten in Papierform geführt werden, durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt (§ 78 Abs. 3 Satz 1 FGO). Die Kanzleiräume eines Prozessbevollmächtigten sind keine Diensträume. Die FGO unterscheidet sich damit von anderen Prozessordnungen (§ 100 Abs. 3 Satz 3 VwGO; § 120 Abs. 3 Satz 3 SGG; § 32f Abs. 2 Satz 3 StPO) und sieht auch keine Sonderregelung für Rechtsanwälte als Organ der Rechtspflege vor. Zudem können im finanzgerichtlichen Verfahren keine weitergehenden Rechte aus Art. 15 DSGVO abgeleitet werden.
2. Zwar schließt § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO nicht jedwede Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen aus. Gleichwohl ist die Übersendung von Akten in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten nicht der Regelfall, sondern bleibt auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt. Bei der Entscheidung, Akteneinsicht ausnahmsweise auch außerhalb von Diensträumen zu gewähren, handelt es sich um eine nach den Umständen des Einzelfalls zu treffende Ermessensentscheidung.
Dabei kann ohne Ermessensfehler davon ausgegangen werden, dass trotz der derzeit bestehenden Pandemielage die Gründe gegen eine Aktenübersendung in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten trotz der gesundheitlichen Risiken, die mit einer Akteneinsicht beim FG verbunden sein können, überwiegen, wenn beim FG ein ausgefeiltes Hygienekonzept besteht, das gesundheitliche Risiken weitestgehend ausschließt.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 18.3.2021 – V B 29/20