Leitsatz
Ein Anspruch auf Prozesszinsen gem. § 236 Abs. 1 Satz 1 AO besteht auch dann, wenn durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung eine unwirksame Steuerfestsetzung aufgehoben wird.
Normenkette
§ 236 Abs. 1 Satz 1 AO
Sachverhalt
Das FA setzte gegen die Klägerin mit zwei durch Postzustellungsurkunde zugestellten Bescheiden Schenkungsteuer und Erbschaftsteuer fest. Die Mitarbeiterin eines privaten Zustellunternehmens bescheinigte die Zustellung durch Einlegen in den zur Wohnung der Klägerin gehörenden Briefkasten. Später teilte die Klägerin dem FA mit, sie habe zwar Mahnungen, aber keine Bescheide erhalten. Die daraufhin eingelegten Einsprüche verwarf das FA als unzulässig. Dagegen erhob die Klägerin, nach vorheriger Zahlung der festgesetzten Schenkung- und Erbschaftsteuer, Klage. Das FG hob den Schenkung- sowie den Erbschaftsteuerbescheid auf, weil die beurkundete Ersatzzustellung tatsächlich nicht stattgefunden habe.
Nach Rechtskraft des Urteils erstattete das FA die von der Klägerin gezahlte Erbschaft- und Schenkungsteuer. Den Antrag auf Festsetzung von Prozesszinsen lehnte das FA ab. Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Verpflichtungsklage hatte Erfolg. Das FG bejahte den Anspruch auf Prozesszinsen und sah es als unerheblich an, ob eine herabgesetzte oder aufgehobene Steuerfestsetzung von vornherein unwirksam war (FG Düsseldorf, Urteil vom 9.3.2011, 4 K 4502/10 AO, Haufe-Index 2667960, EFG 2011, 941).
Entscheidung
Dem ist der BFH, wie unter den Praxis-Hinweisen erläutert, gefolgt.
Hinweis
Nach § 236 AO besteht ein Anspruch auf Prozesszinsen, wenn durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt wird. Dem steht es gleich, wenn sich der Rechtsstreit durch Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts oder durch Erlass des beantragten Verwaltungsakts erledigt hat.
1. In dem vom BFH zu entscheidenden Fall war nun streitig, ob – so das FA – eine "festgesetzte" Steuer nur dann anzunehmen ist, wenn eine wirksame Steuerfestsetzung vorliegt. Das FA argumentierte, ein mangels Bekanntgabe nicht wirksamer Bescheid (sog. Nichtbescheid) könne keinen Prozesszinsenanspruch auslösen. Die Aufhebung eines solchen Bescheids erfolge lediglich aus deklaratorischen Gründen zur Beseitigung des Rechtsscheins seiner Wirksamkeit.
2. Dem ist der BFH unter Hinweis auf Wortlaut und Zweck des § 236 AO nicht gefolgt.
Der Wortlaut des § 236 Abs. 1 Satz 1 AO stellt nur auf die "festgesetzte", nicht aber auf die "wirksam festgesetzte" Steuer ab. Eine den Wortlaut des Gesetzes einschränkende Auslegung stünde auch im Widerspruch zum Zweck des § 236 AO. Die Vorschrift soll dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Vorenthaltung des Kapitals und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zumindest für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine Entschädigung gewähren. Angesichts dieser Zwecksetzung ist es unerheblich, ob die Steuer aufgrund einer rechtswidrigen oder unwirksamen Steuerfestsetzung gezahlt wurde.
3. Nach wie vor setzt ein Anspruch auf Prozesszinsen aber voraus, dass durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung eine Aufhebung oder Änderung der Steuerfestsetzung erfolgt. Nicht verzinst werden auf Überzahlung von Steuern beruhende Erstattungsansprüche, die auf anderen Rechtsgründen (z.B. auf einem erfolgreichen Rechtsstreit gegen einen Abrechnungsbescheid etwa wegen Überzahlung, Doppelzahlung oder unberechtigter Aufrechnung) oder auf Billigkeitsmaßnahmen beruhen.
4. Es ist ferner zu beachten, dass auf Prozesszinsen für Steuererstattungen die Zinsen nach § 233a, die für denselben Zeitraum festgesetzt wurden, anzurechnen sind (§ 236 Abs. 4 AO). Damit soll eine Doppelverzinsung ausgeschlossen werden. Für die Erbschaft- und Schenkungsteuer ist diese Einschränkung jedoch ohne Bedeutung, weil bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer keine Vollverzinsung erfolgt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 16.5.2013 – II R 20/11