Rz. 93
Sofern die Voraussetzungen des § 250 Abs. 1 und 2 HGB bzw. § 5 Abs. 5 Satz 1 EStG kumulativ erfüllt sind, besteht sowohl handels- als auch steuerrechtlich ein Aktivierungs- bzw. Passivierungsgebot für aktive bzw. passive Rechnungsabgrenzungsposten. Umgekehrt ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut aber auch ein Bilanzierungsverbot für all jene Fälle, die die Voraussetzungen nicht erfüllen. Ist eine Bilanzierung von Rechnungsabgrenzungsposten geboten, sind die aktiven Rechnungsabgrenzungsposten nach Maßgabe des § 266 Abs. 2 HGB unter der Bilanzposition C auf der Aktivseite der Bilanz und die passiven Rechnungsabgrenzungsposten nach § 266 Abs. 3 HGB unter der Bilanzposition D auf der Passivseite der Bilanz auszuweisen.
Rz. 94
Gleichwohl hatte sich in der Praxis aus Vereinfachungsgründen über den Gesetzeswortlaut hinaus ein Aktivierungswahlrecht etabliert, indem sich auf den Grundsatz der Wesentlichkeit berufen wurde. Demzufolge war anerkannt, dass von einer Bilanzierung von Rechnungsabgrenzungsposten ausnahmsweise abgesehen werden konnte, wenn diese Position für die Aussagekraft der Bilanz von untergeordneter Bedeutung war; von einer derartigen untergeordneten Bedeutung waren bspw. geringfügige, regelmäßig wiederkehrende Beträge erfasst, deren unterlassene Abgrenzung den Einblick in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage nur unwesentlich beeinträchtigen würde.
Der BFH ist dieser Vorgehensweise mit Urteil v. 16.3.2021 entgegengetreten und hat entschieden, dass aktive Rechnungsabgrenzungsposten auch bei geringfügigen Beträgen zu bilden sind. Die Pflicht zur Bildung der Rechnungsabgrenzungsposten kann laut BFH weder durch den Grundsatz der Wesentlichkeit noch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf wesentliche Fälle beschränkt werden, da die gesetzlichen Regelungen dafür keinen Raum lassen.
Somit hält der BFH nicht mehr an der im Beschluss vom 18.3.2010 bejahten Möglichkeit eines Wahlrechts in Bezug auf aktive Rechnungsabgrenzung fest. Dieser Änderung der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung begegnete der Gesetzgeber mit der Einführung von § 5 Abs. 5 Satz 2 EStG im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2022, womit eine rechtliche Grundlage geschaffen wurde, um bei Fällen von geringer Bedeutung von der Bildung eines Rechnungsabgrenzungspostens abzusehen.
Rz. 95
Als Ausnahmetatbestand zum generellen Bilanzierungsgebot für Rechnungsabgrenzungsposten kann der Ansatz eines Rechnungsabgrenzungspostens nach § 5 Abs. 5 Satz 2 EStG unterbleiben, wenn die jeweilige Ausgabe oder Einnahme den Betrag des § 6 Abs. 2 Satz 1 EStG i. H. v. derzeit 800 EUR nicht überschreitet. Das Wahlrecht ist dabei einheitlich für alle Ausgaben und Einnahmen auszuüben. Die Regelung gilt erstmals für Wirtschaftsjahre, die nach dem 31.12.2021 enden.
Rz. 95a
Der BFH orientierte sich bei der Konkretisierung der Begrifflichkeit "geringfügig" bereits in seinem Beschluss vom 18.3.2010 an den Wertgrenzen der steuerrechtlichen Regelung für geringwertige Wirtschaftsgüter des § 6 Abs. 2 EStG. Die Grenze ist dabei auf jede einzelne Einnahme bzw. Ausgabe i. S. d. § 5 Abs. 5 Satz 1 EStG bezogen. In Bezug auf die Anzahl der Einnahmen oder Ausgaben, die jeweils für sich genommen die Grenze nicht überschreiten, ist hingegen keine Obergrenze vorgesehen.
Rz. 95b
Das Wahlrecht kann nur einheitlich für sämtliche Einnahmen bzw. Ausgaben ausgeübt werden, die die Grenze des § 6 Abs. 2 EStG unterschreiten. Dadurch soll verhindert werden, dass der Steuerpflichtige nicht einerseits auf die Bildung aktiver Rechnungsabgrenzungsposten, welche steuererhöhend wirken, verzichten kann, und gleichzeitig weiterhin passive Rechnungsabgrenzungsposten, welche steuermindernd wirken, nach den allgemeinen Regeln bildet. Die Ausübung des Wahlrechts kann durch den bewussten und dokumentierten Verzicht der Bildung der Rechnungsabgrenzungsposten erfolgen. Das Wahlrecht ist hingegen nicht ausgeübt, wenn es an einer bewussten Entscheidung über die Wahlrechtsausübung mangelt.
Rz. 95c
Die Ausübung des Wahlrechts ist gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EStG auch in Konstellationen möglich, in denen handelsrechtlich bspw. eine Aktivierungspflicht besteht, da die Aussagekraft in Bezug auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage ansonsten beeinträchtigt würde. Die Ausübung des Wahlrechts kann somit zu Abweichungen zwischen Handels- und Steuerbilanz führen und weicht dadurch den Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz weiter auf.