Leitsatz
Ein Rechtsanwalt erzielt als Verwalter im Gesamtvollstreckungsverfahren Einkünfte aus sonstiger selbstständiger Arbeit i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG. Sie können unter den Voraussetzungen der sog. Vervielfältigungstheorie als Einkünfte aus Gewerbebetrieb zu beurteilen sein.
Normenkette
§ 15 EStG , § 18 Abs. 1 EStG , § 2 Abs. 1 Satz 2 GewStG , § 3 Abs. 1 BRAO
Sachverhalt
Die Klägerin ist eine aus vier Rechtsanwälten bestehende Sozietät, die in sieben Städten – vornehmlich in den neuen Bundesländern – Zweigniederlassungen hatte. Ihre Einnahmen stammten überwiegend aus Tätigkeiten als Verwalter im Gesamtvollstreckungsverfahren. Die Sozietät beschäftigte insgesamt 70 Mitarbeiter, zu denen u.a. zwei angestellte Rechtsanwälte, ein Betriebswirt, ein Büroverwalter und eine Vielzahl von Reno-Gehilfinnen und Buchhalterinnen gehörten.
Das FA beurteilte die Tätigkeit der Sozietät – wie schon in den beiden Jahren zuvor – als gewerbliche. Das FG gab der Klage statt (EFG 1999, 843). Es ging davon aus, dass ein Rechtsanwalt, der die Aufgaben eines Verwalters im Gesamtvollstreckungsverfahren wahrnimmt, in Ausübung seines freien Berufs tätig sei.
Entscheidung
Der BFH hob auf die Revision des FA die Vorentscheidung auf und wies die Klage ab.
Die Tätigkeit eines Verwalters im Gesamtvollstreckungsverfahren sei auch dann eine vermögensverwaltende i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG und damit keine freiberufliche Tätigkeit, wenn sie von Rechtsanwälten ausgeübt werde. Unter Anwendung der sog. Vervielfältigungstheorie sei aufgrund der Gesamtumstände die Tätigkeit der Sozietät als gewerblich zu qualifizieren.
Hinweis
1. Die Tätigkeit eines Verwalters im Gesamtvollstreckungsverfahren besteht darin, das der Gesamtvollstreckung unterliegende Vermögen in Besitz zu nehmen, zu verwalten und durch Verkauf oder in anderer Weise zu verwerten. Diese Tätigkeit ist vergleichbar mit der eines Konkurs- oder Insolvenzverwalters. Für den berufsmäßigen Konkurs- und Vergleichsverwalter aber hat der BFH in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass dessen Tätigkeit keine freiberufliche ist, sondern eine vermögensverwaltende Tätigkeit; die daraus erzielten Einkünfte sind solche aus sonstiger selbstständiger Tätigkeit i.S.v. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG. Dasselbe gilt für die Einkünfte eines Verwalters im Gesamtvollstreckungsverfahren.
2. Die Tätigkeit wird auch nicht dadurch zu einer freiberuflichen, dass sie von einem Rechtsanwalt ausgeübt wird. Denn entscheidend ist allein, ob die von einem Rechtsanwalt tatsächlich ausgeübte Tätigkeit freiberuflicher Art ist. Das ist sie aber nur dann, wenn es sich um eine berufstypische Tätigkeit handelt – d.h. um eine den Rechtsanwaltsberuf in besonderer Weise charakterisierende Tätigkeit. Dazu gehört die Vermögensverwaltung nicht. Sie wird auch nicht deshalb zu einer für den Rechtsanwaltsberuf typischen "Rechtsangelegenheit", weil sich im Gesamtvollstreckungsverfahren möglicherweise schwierige Rechtsfragen stellen, die nur von einem Rechtsanwalt beantwortet werden können. Insoweit können allerdings Vermögensverwaltungs- und Rechtsangelegenheiten nebeneinander stehen.
3. Anders als bei freiberuflichen gilt bei vermögensverwaltenden Tätigkeiten i.S.v. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG nach wie vor die von der Rechtsprechung des RFH und des BFH entwickelte sog. Vervielfältigungstheorie. Nach dieser kann – wenn der Berufsträger sich der Mithilfe anderer Personen bedient – die selbstständige vermögensverwaltende Tätigkeit steuerrechtlich als gewerbliche Tätigkeit zu qualifizieren sein. Wann dies der Fall ist, muss nach dem Gesamtbild der Verhältnisse im Einzelfall entschieden werden.
4. Im Streitfall hat der BFH aufgrund der Gesamtumstände die Tätigkeit der Rechtsanwaltssozietät als gewerblich angesehen. Entscheidend dafür war, dass wegen der Beschäftigung mehrerer vergleichbar qualifizierter Angestellter und der Vielzahl der insgesamt beschäftigten Personen die vermögensverwaltende Tätigkeit nicht mehr im Wesentlichen auf der persönlichen Arbeitskraft der Berufsträger beruhen konnte.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 12.12.2001, XI R 56/00