Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Ein Arbeitnehmer kann nicht mehr als eine regelmäßige Arbeitsstätte innehaben, auch wenn er fortdauernd und immer wieder verschiedene Betriebsstätten seines Arbeitgebers aufsucht. In einem solchen Fall ist der ortsgebundene Mittelpunkt der dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit (regelmäßige Arbeitsstätte) zu bestimmen (Fortentwicklung von BFH-Urteilen vom 11.05.2005, VI R 25/04, BFH/NV 2005, 1694 und vom 14.09.2005, VI R 93/04, BFH/NV 2006, 53).
2. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, welcher Tätigkeitsstätte der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zugeordnet worden ist, welche Tätigkeit er an den verschiedenen Arbeitsstätten im Einzelnen wahrnimmt oder wahrzunehmen hat und welches konkrete Gewicht dieser Tätigkeit zukommt.
3. Allein der Umstand, dass der Arbeitnehmer eine Tätigkeitsstätte im zeitlichen Abstand immer wieder aufsucht, reicht für die Annahme einer regelmäßigen Arbeitsstätte jedenfalls nicht aus. Ihr muss vielmehr zentrale Bedeutung gegenüber den weiteren Tätigkeitsorten zukommen (Anschluss an BFH, Urteil vom 04.04.2008, VI R 85/04, BFH/NV 2008, 1237).
Normenkette
§ 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4, § 6 Abs. 1 Nr. 4 S. 2, § 8 Abs. 2 S. 2 ff., § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG
Sachverhalt
K war Geschäftsführer der X-GmbH. Er durfte einen vom Arbeitgeber überlassenen Firmen-Pkw auch privat nutzen. K wohnte in H. Dort hatte er eine Wohnung von seiner Lebensgefährtin gemietet. Im Keller des Anbaus nutzte er einen Raum mit separatem Zugang für berufliche Zwecke. Der Kellerraum war von der Z an die X-GmbH verpachtet. Die Z hatte ihn wiederum von der Lebensgefährtin des Klägers gepachtet. Der Raum diente ausschließlich der Unterbringung einer EDV-Anlage der X-GmbH. K führte in dem Raum Wartungs- und Optimierungsarbeiten durch. Die X-GmbH behandelte die täglichen Fahrten zwischen dem Wohnort des Klägers in H und der Betriebsstätte der X-GmbH als Dienstfahrten. Das FA beurteilte dagegen die Fahrten als solche zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und erhöhte insoweit den Arbeitslohn. Die dagegen erhobene Klage blieb erfolglos (FG Münster, Urteil vom 19.01.2010, 1 K 4306/07 E, EFG 2010, 1986).
Entscheidung
Der BFH hob die Entscheidung der Vorinstanz aus den unter Praxis-Hinweisen erläuterten Erwägungen auf und verwies die Sache zur erneuten Prüfung unter Beachtung der neuen Rechtsgrundsätze zurück.
Hinweis
Das Besprechungsurteil und die beiden anderen am selben Tag ergangenen Entscheidungen (VI R 58/09, VI R 36/10) bringen grundlegende Klarstellungen und Änderungen zur regelmäßigen Arbeitsstätte i.S.d. § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG. Der Fall hier stellt klar, dass Arbeitnehmer nur eine regelmäßige Arbeitsstätte i.S.d. § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG haben können.
1. Schon bisher umschrieb der BFH in seinen – auch hier wieder nachgewiesenen – Urteilen die regelmäßige Arbeitsstätte i.S.d. § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG als den (ortsgebundene) Mittelpunkt der dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit also den Ort, an dem der Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglich geschuldete Leistung zu erbringen hat. Dies ist typischerweise der Betrieb oder eine Betriebsstätte des Arbeitgebers, die der Arbeitnehmer nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit – also fortdauernd und immer wieder – aufsucht. Gemessen an dieser Umschreibung konnte ein Arbeitnehmer auch mehrere regelmäßige Arbeitsstätten haben (z.B. Busdepot des Linienbusfahrers oder Rettungsassistenten). Mit den nun veröffentlichten drei Urteilen vom 09.06.2011 (VI R 55/10, VI R 58/09, VI R 36/10) hält der BFH daran nicht mehr länger fest. Die Rechtsprechungsänderung gründet auf dem Merkmal des ortsgebundenen Mittelpunkts der beruflichen Tätigkeit, insbesondere aber auf dem seit den "Mai-Urteilen" von 2005 immer stärker betonten Rechtfertigungs-, Abgrenzungs- und Differenzierungsmerkmal: Nur auf eine Arbeitsstätte kann sich der Arbeitnehmer einstellen. Zu dieser hat er immer den gleichen Weg und kann – etwa durch Fahrgemeinschaften, öffentliche Verkehrsmittel oder zielgerichtete Wohnsitznahme – auf eine Minderung der Wegekosten hinwirken. Das ist die Interpretationsgrundlage des § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG. Unter Beachtung dieser Grundsätze ist § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG eine sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip.
2. Das bedeutet: die eine regelmäßige Arbeitsstätte wird künftig danach zu bestimmen sein, welcher Tätigkeitsstätte der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zugeordnet worden ist, welche Tätigkeit er an möglichen anderen Arbeitsstätten im Einzelnen wahrnimmt oder wahrzunehmen hat und welches konkrete Gewicht dieser Tätigkeit zukommt. Es genügt nicht mehr, wenn der Arbeitnehmer eine Tätigkeitsstätte im zeitlichen Abstand fortdauernd und immer wieder aufsucht. Entscheidend ist vielmehr, dass der regelmäßigen Arbeitsstätte hinreichend zentrale Bedeutung gegenüber den weiteren Tätigkeitsorten zukommt (BFH, Urteil vom 04.04.2008, VI R 85/04, BFH/NV 2008, 1237).
3. Im hier vorliegenden Streitfall wird das FG auch noch zu prüfen haben, ob ...