3.1 Ansatzkriterien für Verbindlichkeitsrückstellungen
In § 249 HGB ist abschließend bestimmt, für welche Zwecke eine Rückstellung zu bilden ist. Bei Vorliegen der Tatbestände des § 249 HGB muss nach Handelsrecht zum nächsten Bilanzstichtag eine Rückstellung gebildet werden. Es besteht kein Wahlrecht.
Für Rückstellungen gilt der Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz. Müssen Rückstellungen in der Handelsbilanz zwingend gebildet werden, sind sie auch für die Steuerbilanz zu übernehmen, soweit steuerliche Regelungen dem nicht entgegen stehen
Eine wesentliche Rückstellungskategorie (in Handels- und Steuerbilanz) sind die Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten (bzw. Verbindlichkeitsrückstellungen). Die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten setzt eine Verpflichtung gegenüber einem Dritten voraus, wodurch Vergangenes abgegolten wird. Dementsprechend ist eine Verbindlichkeitsrückstellung zu bilden, wenn
- es sich um eine Verbindlichkeit gegenüber einem Dritten oder eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung handelt,
- die Verpflichtung vor dem Bilanzstichtag wirtschaftlich verursacht ist,
- mit einer Inanspruchnahme ernsthaft zu rechnen ist,
die Aufwendungen in künftigen Wirtschaftsjahren nicht zu Anschaffungs- oder Herstellungskosten für einen Vermögensgegenstand führen und
der Passivierung kein konkretes Passivierungsverbot entgegensteht.
3.2 Anwendung auf den Sachverhalt des Praxis-Beispiels
Der Ausgangsfall ist dem Sachverhalt nachgebildet, der dem Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 10.8.2011, dem Urteil des BFH vom 6.2.2013 sowie dem nachfolgenden Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 28.5.2014 zugrunde liegt. Im Streitfall geht es um einen öffentlich-rechtlichen, die Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung erledigenden Zweckverband, der aufgrund des sächsischen Kommunalabgabengesetzes dazu verpflichtet ist, sog. Kostenüberdeckungen, die in einer mehrere Wirtschaftsjahre umfassenden Preiskalkulationsperiode (im Streitfall 5 Jahre) entstanden sind, in der folgenden Kalkulationsperiode (im Streitfall 5 Jahre) preismindernd zu berücksichtigen. Diese Verpflichtung besteht nicht gegenüber den Kunden der abgelaufenen Kalkulationsperiode. Sie stellt aber eine gesetzliche Verpflichtung kraft öffentlichen Rechts dar, Kostenüberdeckungen preismindernd zu berücksichtigen.
Die zuvor genannten allgemeinen Ansatzkriterien für Verbindlichkeitsrückstellungen gelten auch für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen und damit auch für den hier betrachteten streitigen Sachverhalt. Dabei erweist sich die Anwendung der beiden Kriterien "wirtschaftliche Verursachung" und "Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme" aufgrund der Besonderheiten von öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen als problematisch.
3.2.1 Wirtschaftliche Verursachung
Nach allgemeinen Grundsätzen entstehen (auch öffentlich-rechtliche) Ansprüche und Verpflichtungen zu dem Zeitpunkt, zu dem die sie begründenden rechtlichen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind.
Die im Streitfall relevante Norm des § 10 Abs. 2 SächsKAG sieht vor, Kostenüberdeckungen, die sich am Ende des Bemessungszeitraums von 5 Jahren (= Preiskalkulationsperiode) ergeben, innerhalb der folgenden 5 Jahre auszugleichen. D.h. die rechtliche Pflicht, Kostenüberdeckungen auszugleichen, entsteht erst am Ende des Bemessungszeitraums von 5 Jahren.
Auch im oben dargestellten Praxis-Beispiel ist die Verpflichtung am Ende der Preiskalkulationsperiode (von 3 Jahren) zum 31.12.03 rechtlich entstanden.
Rückstellungen können auch für am Bilanzstichtag dem Grunde nach noch nicht entstandene Verbindlichkeiten zu bilden sein, wenn sie bis zu diesem Zeitpunkt zumindest wirtschaftlich verursacht sind.
Eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung ist wirtschaftlich verursacht, "wenn – ungeachtet der rechtlichen Gleichwertigkeit aller Tatbestandsmerkmale – die wesentlichen Tatbestandsmerkmale des die Verpflichtung auslösenden Tatbestands erfüllt sind und das Entstehen der Verbindlichkeit nur noch von wirtschaftlich unwesentlichen Tatbestandsmerkmalen abhängent."
Im Streitfall ist ein wesentliches Merkmal der Ausgleichspflicht der Ablauf der Preiskalkulationsperiode. Nach der rechtlichen Struktur des § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 SächsKAG und der im Sachverhalt des Praxisfalls beschriebenen Regelung entsteht die Ausgleichspflicht nach Auffassung des Sächsischen Finanzgerichts nicht in Teilschritten, sondern insgesamt zum Zeitpunkt des Ablaufs der Preiskalkulationsperiode. Im Streitfall wurden die Voraussetzungen für die Verpflichtung nicht zeitproportional in Teilschritten geschaffen. Vielmehr kann die Kostenüberdeckung in einem Jahr durch eine Kostenunterdeckung in einem anderen Jahr (innerhalb der Preiskalkulationsperiode) gemindert werden oder ganz ausgeglichen werden. Zur Entstehung einer Verpflichtung kommt es darauf an, dass am Ende der Pr...