Leitsatz
Es wird die Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob die zu § 34 Abs. 1 i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 vom 24.3.1999 (BGBl I 1999, 402) ergangene Anwendungsregelung des § 52 Abs. 47 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 mit Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG insoweit vereinbar ist, als Entschädigungen i.S.d. § 34 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 24 Nr. 1 EStG, die vor der Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.3.1999 vereinbart und ausgezahlt worden sind, mit einer höheren Steuer belegt werden, als es das im Zeitpunkt der Auszahlung geltende Gesetz vorgesehen hat.
Normenkette
Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 100 Abs. 1 GG, § 24 Nr. 1, § 34 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 47 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002
Sachverhalt
Der Kläger vereinbarte mit seinem Arbeitgeber am 22.11.1998 die Aufhebung seines Arbeitsverhältnisses zum 30.6.1999. Als Entschädigung für den Verlust des Arbeitsplatzes erhielt er – wie vereinbart – am 22.3.1999 eine Abfindung ausgezahlt.
Das FA besteuerte – nach Abzug des steuerfreien Betrags nach § 3 Nr. 9 EStG – die Abfindung nach der sog. Fünftelregelung des § 34 Abs. 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002. Dagegen wandte sich der Kläger mit dem Begehren, die Abfindung mit dem halben Steuersatz zu besteuern. Anzuwenden sei § 34 Abs. 1 EStG in der Fassung, die zum Zeitpunkt der Auszahlung der Entschädigung gegolten habe.
Das FG wies die Klage ab (EFG 2003, 97). Es ging davon aus, dass die im StEntlG 1999/2000/2002 angeordnete rückwirkende Anwendung der sog. Fünftelregelung verfassungsrechtlich unbedenklich sei, weil es sich lediglich um eine unechte Rückwirkung handle und der Kläger keinen Anspruch auf den Schutz seines Vertrauens in die bestehende Rechtslage habe.
Entscheidung
Der BFH setzte das Revisionsverfahren aus und legte die Sache dem BVerfG vor.
Nach Auffassung des BFH ist die Anordnung der rückwirkenden Anwendung des § 34 Abs. 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 auch auf den Zeitraum vor der Verkündung dieses Gesetzes verfassungswidrig. Der BFH sieht darin nicht nur eine unechte, sondern eine echte Rückwirkung, die gem. Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG unzulässig sei.
Hinweis
1. Bei der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit rückwirkend angeordneter Gesetzesbestimmungen ist nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG zu unterscheiden zwischen einer echten und einer unechten Rückwirkung bzw. der Rückbewirkung von Rechtsfolgen und der tatbestandlichen Rückanknüpfung.
2. Die echte Rückwirkung ist grundsätzlich unzulässig und allenfalls aus zwingenden Gründen des Gemeinwohls zu rechtfertigen. Sie liegt immer dann vor, wenn eine belastende Rechtsfolge schon vor der Verkündung der entsprechenden Rechtsnorm eintreten soll. Darin liegt ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, das die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der geltenden Rechtsordnung garantiert.
3. Von einer unechten Rückwirkung – die weniger strengen Beschränkungen unterliegt – spricht das BVerfG, wenn die Rechtsfolgen eines Gesetzes erst nach der Verkündung der Norm eintreten, deren Tatbestand aber Sachverhalte erfasst, die bereits vor der Verkündung "ins Werk gesetzt" worden sind.
4. Vom Vorliegen einer solchen unechten Rückwirkung geht das BVerfG regelmäßig aus, wenn auf dem Gebiet der Veranlagungssteuern wie der ESt im Verlauf eines Jahrs ein Gesetz verkündet wird, das bereits uneingeschränkt für den Veranlagungszeitraum gelten soll, in dem es verkündet worden ist. Denn nach Auffassung des BVerfG tritt aufgrund der Jahresbezogenheit der Einkünfte- und Einkommensermittlung die durch das Verhalten des Steuerpflichtigen ausgelöste Rechtsfolge erst in dem Zeitpunkt ein, in dem die Steuerschuld entsteht (also erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums).
5. Die Richtigkeit dieser sog. Veranlagungsrechtsprechung, die in der Literatur von Beginn an fast einhellig auf Kritik gestoßen ist, der aber die Rechtsprechung des BFH bislang stets gefolgt ist, zieht der XI. Senat des BFH mit den vorliegenden Beschlüssen (vgl. dazu auch den Beschluss vom gleichen Tag XI R 30/03) nun erstmals – zu Recht – in Zweifel.
Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen der Verwirklichung des Tatbestands (§ 38 AO), als dem Zeitpunkt, in dem die Ansprüche des Staats aus dem Steuerschuldverhältnis entstehen, und der Entstehung der Leistungspflicht des Steuerpflichtigen (§ 36 Abs. 1 EStG). § 36 EStG betrifft – wie sich auch aus der Stellung im Gesetz ergibt – lediglich die Erhebungstechnik. Die Verwirklichung des Tatbestands – so der XI. Senat – ist der maßgebliche Zeitpunkt, ab dem das Vertrauen auf den Bestand des Rechts zu schützen ist.
Der XI. Senat plädiert deshalb dafür, dass – abweichend von der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG – auch bei Steuergesetzen eine "echte" Rückwirkung dann angenommen werden solle, wenn "eine im Gesetz neu oder verändert vorgesehene Rechtsfolge auch dann oder nur in Fällen gelten soll, in denen ihre Tatbestandsvoraussetzungen ausschließlich vor Verkündung des Ge...