Leitsatz
Besteuerungsgrundlagen sind auch dann gemäß § 162 AO 1977 zu schätzen, wenn gegen den Steuerpflichtigen ein Strafverfahren wegen einer Steuerstraftat eingeleitet worden ist.
Normenkette
§ 162, § 393 Abs. 1 AO
Sachverhalt
Der Kläger betrieb ein Speiselokal. Bei einer Steuerfahndungs- und Außenprüfung legte er keine Buchführungsbelege vor. Der Prüfer nahm sog. Verwiegungen vor und kam anhand von Nachkalkulationen zu dem Ergebnis, dass die Besteuerungsgrundlagen unzutreffend erklärt worden seien. Er ermittelte die Gewinne und Umsätze, indem er auf den bereinigten Wareneinsatz Rohgewinnaufschlagsätze anwendete, die an der oberen Grenze der amtlichen Richtsatzsammlungen lagen. Das FG wies die Klage ab und ließ die Revision nicht zu.
Die Nichtzulassungsbeschwerde stützt der Kläger auf grundsätzliche Bedeutung und Verfahrensmangel.
Entscheidung
Der BFH wies die Beschwerde zurück.
Die grundsätzliche Bedeutung sei nicht gegeben, weil die aufgeworfene Rechtsfrage nicht klärungsbedürftig sei. Die Frage, ob Besteuerungsgrundlagen auch bei strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen geschätzt werden dürfen, lasse sich anhand der AO eindeutig bejahen.
Da das FG nicht verpflichtet sei, zur Höhe der Rohgewinnaufschläge ein Sachverständigengutachten einzuholen, habe es auch seine Sachaufklärungspflicht nicht verletzt.
Hinweis
1. Mit der Frage, ob das FA berechtigt ist, im Besteuerungsverfahren eine Schätzung vorzunehmen, wenn der Steuerpflichtige in einem parallel laufenden Steuerstrafverfahren von seinem verfassungsrechtlich gesicherten Recht Gebrauch macht, Angaben zu verweigern, hatte sich der BFH nun zum wiederholten Male im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen. Er hält die Rechtsfrage nach wie vor nicht für klärungsbedürftig, weil sie ohne weiteres aus dem Gesetz beantwortet werden kann.
2. Verletzt ein Steuerpflichtiger seine Mitwirkungspflichten nach § 90 Abs. 2 AO,hat das FA nach § 162 AO die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Aus § 393 AO, der das Verhältnis des Strafverfahrens zum Besteuerungsverfahren regelt, ergibt sich, dass ein Steuerpflichtiger auch dann zur Mitwirkung im Besteuerungsverfahren verpflichtet ist, wenn er gleichzeitig Beschuldigter in einem Steuerstrafverfahren ist.
Danach stehen beide Verfahren unabhängig und gleichrangig nebeneinander. Für das Besteuerungsverfahren gilt die AO, für das Steuerstrafverfahren die StPO.
3. Der Grundsatz, dass niemand gehalten ist, sich selbst zu beschuldigen ("nemo tenetur se ipsum accusare"), ist in erster Linie ein strafprozessuales Prinzip, um den Schutz vor Bestrafung zu sichern. Er befreit aber nicht von gesetzlich geregelten Mitwirkungspflichten bei der Besteuerung.
Schon eine Einschränkung der Mitwirkungspflichten würde zudem eine Privilegierung des in ein Strafverfahren verwickelten Steuerpflichtigen gegenüber anderen Steuerpflichtigen in sonst gleicher Lage bedeuten und damit einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Prinzip der Belastungsgleichheit) beinhalten.
Eine andere – im Strafverfahren zu klärende – Frage ist es, ob und unter welchen Voraussetzungen Tatsachen, die den Behörden wegen der Mitwirkung des Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren bekannt geworden sind, einem strafprozessualen Verwertungsverbot unterliegen.
4. In der Praxis wenden die FÄ häufig die Taktik an, den Steuerpflichtigen mit der Drohung, einen Schätzungsbescheid zu erlassen, zur Mitwirkung zu veranlassen. Die Schätzung ist aber kein unzulässiges Zwangsmittel i.S.v. § 393 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 328 AO; das sind nur Zwangsgeld, Ersatzvornahme und unmittelbarer Zwang. Allerdings kann eine bewusste Übermaß- oder Strafschätzung (sog. "Mondschätzung"), die krass von den tatsächlichen Begebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennen lässt, welche Schätzungserwägungen angestellt worden sind, zur Nichtigkeit des Schätzungsbescheids führen (vgl. BFH-Urteil vom 20.12.2000, I R 50/00, BFH-PR 2001, 232).
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 19.9.2001, XI B 6/01