Dipl.-Finanzwirt Karl-Heinz Günther
Nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO ist insbesondere zu schätzen, wenn
- der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann,
- die Buchführung oder die Aufzeichnung der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden oder
- tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen oder Betriebsvermögensmehrungen bestehen und der Steuerpflichtige die Zustimmung nach § 93 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 AO nicht erteilt.
Besteuerungsgrundlagen sind insbesondere zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige seinen Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten (§§ 140 ff. AO sowie nach den jeweiligen Einzelsteuergesetzen, z. B. § 22 UStG) nicht nachkommt. Werden die Bücher oder Aufzeichnungen nicht vorgelegt, ist das Finanzamt zur Ermittlung oder Berechnung der Besteuerungsgrundlagen nicht in der Lage, sodass unabhängig davon, ob der Steuerpflichtige die Unterlagen nicht vorlegen will oder nicht vorlegen kann, die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen sind.
Eine Schätzungsbefugnis besteht darüber hinaus auch, wenn zwar keine ausdrückliche Aufzeichnungspflicht besteht, der Steuerpflichtige jedoch z. B. bei einer Einnahmen-Überschussrechnung außerstande ist, seine Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben nachzuweisen.
Werden Buchführung oder Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt, ist wie folgt zu differenzieren:
- Einer formell ordnungsgemäßen Buchführung wird zunächst ein Vertrauensvorschuss gewährt und ihre sachliche Richtigkeit unterstellt. Gleichwohl kann diese Vermutung unter Auslegung strenger Maßstäbe widerlegt werden. Erst wenn die Buchführung nach Verprobung ganz oder teilweise verworfen werden kann, d. h. wenn feststeht, dass das Ergebnis der Buchführung unrichtig sein muss, ist eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen durchzuführen.
- Bei einer formell ordnungswidrigen Buchführung ist das Beweismaß für eine Schätzung von vornherein herabgesetzt, d. h. hier genügen bereits ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit des Buchführungsergebnisses, um die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Allerdings muss die Schätzung auch hier alle bekannten und vom Steuerpflichtigen vorgetragenen Umstände berücksichtigen. Der Umstand der formellen Ordnungswidrigkeit der Buchführung rechtfertigt keine "Grobschätzung" unter Außerachtlassung der den Steuerfall prägenden Gesamtumstände.
Die letzte in § 162 Abs. 2 Satz 2 AO aufgeführte Alternative betrifft vermutete unvollständige Angaben des Steuerpflichtigen zu Einnahmen oder Betriebsvermögensmehrungen und damit einhergehend die Verweigerung seiner Zustimmung zum Kontenabruf nach § 93 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 AO. Hieraus ergibt sich eine Beweisrisikoverteilung zulasten des Steuerpflichtigen, der aufgrund der bloßen Nichterfüllung der Zustimmung zum Kontenabruf mit einer Zuschätzung auf der Einnahmenseite rechnen muss. Allerdings muss die Finanzverwaltung konkrete Anhaltspunkte dafür haben, dass die erklärten Einnahmen unrichtig oder unvollständig sind.