Prof. Rolf-Rüdiger Radeisen
Rz. 539d
Entgegen der früheren Annahme des Gesetzgebers sind die Ausgaben oder Kosten nicht immer die Untergrenze dessen, was ein Unternehmer für seine sonstige Leistung verlangt. Manchmal und in manchen Bereichen erbringen Unternehmer sonstige Leistungen ohne kostendeckendes Entgelt an jeden Leistungsempfänger. Dafür können unterschiedliche Gründe ausschlaggebend sein. In solchen Bereichen führt die Bemessungsgrundlage sowohl nach § 10 Abs. 4 UStG unmittelbar (Rz. 480 ff.) als auch nach § 10 Abs. 5 mit Abs. 4 UStG zu einer höheren Umsatzbesteuerung dieser "Anpassungsfälle" wegen Bestehens eines Näheverhältnisses als in den normalen Leistungsaustauschfällen.
Rz. 539e
Diese Problematik spielt bei der Mindestbemessungsgrundlage eine besonders große Rolle, weil sich die Beteiligten gerade im Fall von Näheverhältnissen aus anderen steuerlichen Gründen (z. B. Vermeidung des Vorwurfs, eine zu hohe Miete mit dem Ehepartner vereinbart zu haben, der sie als Betriebsausgaben absetzt) bemühen, orts- und marktübliche Preise zu vereinbaren. Zur Frage, ob und eventuell mit welcher Begründung der Ansatz der Kosten in der Höhe auf marktübliche Entgelte zu begrenzen ist, gab es sehr unterschiedliche Auffassungen und eine umfangreiche Rechtsprechung der Finanzgerichte.
Rz. 539f
Die Finanzverwaltung lehnte bis zum EuGH-Urteil v. 29.5.1997 (Rz. 539h) eine Begrenzung des Ansatzes der Kosten auf marktübliche Beträge ab. Sie war lediglich bereit, in den Fällen der Vermietung und Verpachtung von Gebäuden bei der Kostenberechnung erhöhte Absetzungen und Sonderabschreibungen außen vorzulassen und anstelle der degressiven AfA die lineare AfA zu erlauben, auch wenn ertragsteuerlich anders verfahren wird. Der Unternehmer sollte dann jedoch für die Dauer der Vermietung oder Verpachtung des Gebäudes an diese Handhabung gebunden sein. Vgl. demgegenüber zu Leistungen im öffentlichen Bereich ohne kostendeckende Preise unter Rz. 539j.
Rz. 539g
Die umfangreich zu dieser Frage erschienene Literatur und die fast unübersehbar gewordene Rechtsprechung der Finanzgerichte – der BFH hat sich jahrelang einer Stellungnahme enthalten – forderten mit unterschiedlichen Begründungen die Begrenzung des Kostenansatzes. Auch der Ruf nach Klärung durch den Gesetzgeber auf der Grundlage einer besseren Systematik des Gesamtkomplexes der Eigenverbrauchsbesteuerung und der Mindestbemessungsgrundlage war mehrfach erhoben worden. Erst 2014 ist § 10 Abs. 5 UStG durch wörtliche Berücksichtigung des marktüblichen Entgelts angepasst worden.
Rz. 539h
Der EuGH hatte auf Vorlagebeschluss des BFH die Mindestbemessungsgrundlage als insoweit nicht von Art. 27. der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 395 MwStSystRL, allerdings in diesem Fall verdrängt durch die allgemeine Ermächtigungsvorschrift in Art. 80 MwStSystRL) gedeckt erklärt, als sie das marktübliche Entgelt übersteigt. Die nach Unionsrecht möglichen, von der Richtlinie abweichenden Sondermaßnahmen dürften nur eingeführt werden, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhüten. Bei marktüblichen Entgelten besteht für eine Vermutung der Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung kein Anlass. Ein Missbrauch kann nicht angenommen werden. Deswegen ist eine Begrenzung der Mindestbemessungsgrundlage nach oben durch das marktübliche Entgelt notwendig. Dies entspricht insoweit auch der durch Einführung der MwStSystRL allgemeinen Vorgabe des Art. 80 MwStSystRL, nach der auch Regelungszweck die Vorbeugung gegen Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung ist. Dieses im Einzelfall zu ermitteln, bereitete schon früher häufig Schwierigkeiten. Der BFH hat die Rechtsprechung des EuGH übernommen.
Marktübliches Entgelt ist der gesamte Betrag, den ein Leistungsempfänger an einen Unternehmer unter Berücksichtigung der Handelsstufe zahlen müsste, um die betreffende Leistung zu diesem Zeitpunkt unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs zu erhalten. Es gibt insoweit nicht "das marktübliche Entgelt" für eine Lieferung oder eine sonstige Leistung, es muss immer auf den Markt abgestellt werden, auf den der Leistungsempfänger ansonsten Zugriff haben würde. Deshalb kann bei Prüfung der Mindestbemessungsgrundlage für die Lieferung an eine nahestehende Person, die Nichtunternehmer ist, nicht auf den "Verkaufsmarkt" für Großhändler abgestellt werden. Sonderkonditionen für besondere Gruppen von Kunden oder Sonderkonditionen für das Personal oder Führungskräfte anderer Arbeitgeber haben deshalb keinen Einfluss auf die Bestimmung des marktüblichen Entgelts. Auch gewährte (echte) Zuschüsse mindern nicht das marktübliche Entgelt. Nachweispflichtig für den Ansatz eines (niedrigeren) marktüblichen Entgelts ist immer der leistende Unternehmer.