Prof. Rolf-Rüdiger Radeisen
Rz. 55
Wenn die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Ausgleich der umsatzsteuerlichen Mehr- oder Minderbelastung vorliegen, muss die Höhe des angemessenen Ausgleichs ermittelt werden. Eine Ausgleichspflicht kann sich nur dann ergeben, wenn es – unter Berücksichtigung aller Aspekte – tatsächlich zu einer Mehr- oder Minderbelastung kommt. So ergibt sich z. B. trotz Änderung der Steuersätze dann keine Mehrbelastung, wenn der leistende Unternehmer unter die Erhebungsgrenze für die USt bei Kleinunternehmern nach § 19 UStG fällt.
4.1 Anspruchsberechtigte
Rz. 56
Anspruchsberechtigte nach § 29 UStG können sowohl der leistende Unternehmer als auch der Leistungsempfänger sein. Die Unternehmereigenschaft nach § 2 UStG ist nicht Voraussetzung für die Geltendmachung der Ansprüche nach § 29 UStG. So können auch Endverbraucher oder juristische Personen des öffentlichen Rechts außerhalb ihrer unternehmerischen Betätigung nach § 2 Abs. 3 UStG a. F. bzw. § 2b UStG Ansprüche nach § 29 UStG geltend machen.
Rz. 57
Damit es aber zu einer umsatzsteuerlichen Mehr- oder Minderbelastung kommen kann, muss der die Leistung erbringende Vertragspartner Unternehmer i. S. d. § 2 UStG sein oder durch die Gesetzesänderung die Unternehmereigenschaft erlangen oder verlieren, um so die Voraussetzung "Änderung bei der Steuerbarkeit oder der Steuerpflicht des Umsatzes" zu erfüllen.
4.2 Ausgleichsanspruch der Höhe nach
Rz. 58
§ 29 UStG regelt lediglich, dass eine umsatzsteuerliche Mehr- oder Minderbelastung zu einem angemessenen Ausgleich führen soll. Eine nähere Definition des Begriffs "angemessen" ist im Gesetz nicht enthalten. Entsprechend dem Sinn und Zweck der Regelung und der Wettbewerbsneutralität der USt ist hier von einem vollen Ausgleich der jeweiligen umsatzsteuerlichen Mehr- oder Minderbelastung auszugehen. Dies erscheint vor dem Hintergrund, dass die USt im Regelfall auf den Leistungsempfänger überwälzt wird, gerechtfertigt. Eine bestimmte Höhe der Belastung eines Vertragspartners ist nicht Voraussetzung für die Anwendung des § 29 UStG. Damit führen auch unwesentliche Mehr- oder Minderbelastungen zu einem Anspruch nach § 29 UStG. Fraglich kann in diesen Fällen aber sein, ob es nicht dem wirtschaftlichen Sinn der Regelung entsprechen müsste, bei geringfügigen Veränderungen auch die Befolgungs- und Umsetzungskosten mit zu berücksichtigen. So sind insbesondere durch die temporäre Steuerabsenkung für Umsätze in der Zeit vom 1.7. bis 31.12.2020 viele Dauerleistungsverhältnisse betroffen, bei denen sich durch die Absenkung der Umsatzsteuersätze eine geringfügige Entlastung ergeben hat, die Änderung von schon vorausgezahlten Beträgen durch die dadurch anfallenden Verwaltungskosten aber mehr als kompensiert würde.
Rz. 59
Der Ausgleichsanspruch ist so genau wie möglich zu ermitteln. Der gesetzliche Verweis in § 29 UStG, dass in strittigen Fällen § 287 Abs. 1 ZPO zur Ermittlung heranzuziehen ist, verdeutlicht, dass hier alle, die umsatzsteuerliche Belastung beeinflussenden Parameter zur Beurteilung heranzuziehen sind. Damit sind nicht nur die sich auf der Leistungsausgangsseite ergebenden Änderungen bei Steuerbarkeit, Steuerpflicht oder Steuersatz zu berücksichtigen, sondern auch Auswirkungen, die sich dadurch auf der Leistungseingangsseite ergeben. Damit sind bei der Ermittlung des Ausgleichs auch Fragen der Vorsteuerabzugsberechtigung nach § 15 UStG oder der Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG zu berücksichtigen, wobei gerade die finanziellen Auswirkungen, die sich durch eine Vorsteuerberichtigung ergeben, im Einzelfall kaum seriös abschätzbar sein werden.
4.2.1 Ausgleich bei Änderung des anzuwendenden Steuersatzes
Rz. 60
Die Ermittlung des Ausgleichs der Höhe nach ist bei einer Änderung des Steuersatzes vergleichsweise einfach. Da sich in diesem Fall keine weiteren systematischen Änderungen ergeben, sind Auswirkungen auf den Vorsteuerabzug nicht gegeben. Die Höhe des Ausgleichsanspruchs richtet sich damit nach der Höhe der Änderung des Steuersatzes.
4.2.2 Ausgleich bei Änderungen der Steuerbarkeit oder der Steuerpflicht
Rz. 61
Wird ein Umsatz aufgrund einer Änderung des Gesetzes steuerbar oder steuerpflichtig oder entfällt die Steuerbarkeit oder die Steuerpflicht, können sich dadurch auch Auswirkungen auf die Vorsteuerabzugsberechtigung des leistenden Unternehmers ergeben. Dadurch sind grundsätzlich die folgenden Auswirkungen denkbar:
- Dem jetzt steuerpflichtigen Umsatz steht eine Vorsteuerabzugsberechtigung nach § 15 UStG oder ein Anspruch auf Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG gegenüber, der den Ausgleichsanspruch vermindert. So konnte z. B. die mWv 1.1.1992 aufgehobene Steuerbefreiung für die (langfristige) Vermietung von Plätzen für das Abstellen von Fahrzeugen nach § 4 Nr. 12 UStG a. F. zu einer Vorsteuerberichtigung bezüglich der Herstellungskosten des Gebäudes nach § 15a UStG führen, wenn der leistende U...