Prof. Rolf-Rüdiger Radeisen
Rz. 183
Nachdem der EuGH als Voraussetzung für eine Lieferung festgestellt hatte, dass für die Annahme einer Lieferung zwei Bedingungen notwendig sind, die sich nicht mit der bisherigen ertragsteuerrechtlichen Betrachtungsweise in Einklang bringen ließen, musste die Finanzverwaltung ihre bis dahin vertretene Rechtsauffassung ändern. Damit bei einem Leasingvertrag oder einem auf Übertragung des Eigentums gerichteten Mietvertrag von einer Lieferung ausgegangen werden kann, müssen kumulativ die folgenden zwei Voraussetzungen vorliegen:
- Der Vertrag muss ausdrücklich eine Klausel zum Übergang des Eigentums an dem Gegenstand des Miet- oder Leasingvertrags vom Leasinggeber auf den Leasingnehmer enthalten und
- aus den Vertragsbedingungen muss deutlich hervorgehen, dass das Eigentum am Gegenstand automatisch auf den Leasingnehmer übergehen soll, wenn der Vertrag bis zum Vertragsablauf planmäßig ausgeführt wird. Dabei ist auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen und die Voraussetzungen aus objektiver Sicht zu beurteilen.
Rz. 184
Bei einer im Vertrag enthaltenen unverbindlichen Kaufoption soll – schon nach den Feststellungen des EuGH und so auch von der Finanzverwaltung inhaltlich übernommen – die Bedingung erfüllt sein, wenn angesichts der finanziellen Vertragsbedingungen die Optionsausübung am Vertragsende in Wirklichkeit als einzig wirtschaftlich rationale Möglichkeit für den Leasingnehmer erscheint. Dabei darf der Vertrag dem Leasingnehmer keine echte wirtschaftliche Alternative bieten, dass er zum Optionszeitpunkt, je nach Interessenlage den Gegenstand erwerben, zurückgeben oder weiter mieten kann. Nachdem ein erster Entwurf der Finanzverwaltung zu dieser abstrakten Aussage keine weitere Konkretisierung enthielt, wurde – aufgrund der Bitte um Präzisierung aus der Praxis – festgelegt, dass dann keine solche wirtschaftliche Alternative gegeben ist, wenn die Summe der vertraglichen Raten dem Verkehrswert des Gegenstands einschließlich der Finanzierungskosten entspricht und der Leasingnehmer wegen der Ausübung der Option nicht zusätzlich eine erhebliche Summe entrichten muss. Eine solche erhebliche Summe sieht die Finanzverwaltung dann, wenn der zusätzlich zu entrichtende Betrag mehr als 1 % des Verkehrswerts des Gegenstands bei Optionsausübung übersteigt.
Rz. 185
Liegen die Voraussetzungen vor, ist – zumindest bei den ab dem 18.3.2020 abgeschlossenen Leasingverträgen – eine Lieferung gegeben. Die Frage der ertragsteuerrechtlichen Zurechnung bzw. der Bilanzierung bei Leasinggeber oder Leasingnehmer ist nicht mehr entscheidend. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, liegt umsatzsteuerrechtlich eine sonstige Leistung vor. Durch die Neuregelung kann es zu Unterschieden in der ertragsteuer- und umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung kommen. Es kann ertragsteuerrechtlich weiterhin der Gegenstand dem Leasingnehmer zuzurechnen sein, während umsatzsteuerrechtlich aber aufgrund einer fehlenden Kaufoption eine sonstige Leistung anzunehmen ist. Die Finanzverwaltung ist nicht auf diese – sich auch bilanziell auswirkenden – Fragen eingegangen.
Rz. 186
Zu beachten ist, dass der Abrechnung in diesen Fällen eine besondere Bedeutung zukommt. Selbst wenn nach ertragsteuerrechtlichen Kriterien das Wirtschaftsgut beim Leasingnehmer zu bilanzieren ist, aber – z. B. wegen einer fehlenden Kaufoption – umsatzsteuerrechtlich eine sonstige Leistung anzunehmen ist, muss die Rechnung entsprechend der umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung ausgestellt werden, um Probleme beim Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers zu verhindern.