3.2.1 Ermessensspielräume bei Rückstellungen
Rz. 92
In der Handelsbilanz sind Rückstellungen gem. § 253 Abs. 1 Satz 2 HGB grundsätzlich i. H. d. nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendigen Erfüllungsbetrags anzusetzen, wobei auch künftige Kosten- und Preissteigerungen bei der Rückstellungsbewertung zu berücksichtigen sind. Dagegen sind in der Steuerbilanz gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. f EStG die Wertverhältnisse am Bilanzstichtag maßgebend; künftige Kosten- und Preissteigerungen finden keine Berücksichtigung. Insofern wird das Maßgeblichkeitsprinzip durch den Bewertungsvorbehalt des § 5 Abs. 6 EStG durchbrochen.
Rz. 93
Da bei Rückstellungen für künftige Verpflichtungen deren Grund wahrscheinlich, die Höhe und/oder der Fälligkeitszeitpunkt jedoch ungewiss sind, lässt sich die Rückstellungshöhe nicht eindeutig punktuell bestimmen. Aufgrund der Unsicherheit der Erwartungen ist insofern im Zuge der Sachverhaltsabbildung eine Bandbreite zu bestimmen, deren Ober- und Untergrenze durch den denkbar ungünstigsten bzw. günstigsten Wert bestimmt wird. Dieser Schätzmaßstab eröffnet dem Bilanzierenden einen bilanzpolitischen Ermessensspielraum, der nur bedingt nachprüfbar ist. Generell gilt, dass mit einer höheren Dotierung der Rückstellungen ein niedrigerer steuerlicher Gewinn einhergeht, der dem Steuerpflichtigen einen Zins- und Liquiditätsvorteil einräumt. Jener kehrt sich (künftig) in sein Gegenteil um, wenn der Grund, die Höhe sowie die Fälligkeit der Verpflichtung feststehen und die Rückstellung aufzulösen bzw. in eine Verbindlichkeit umzubuchen ist.
Rz. 94
Gleichwohl wird eine willkürliche Festlegung der Bandbreite durch das in § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB verankerte Vorsichtsprinzip als Bewertungsregel bei Ermessensspielräumen vermieden. Hieraus folgt jedoch nicht, dass Rückstellungen stets mit dem ungünstigsten Betrag anzusetzen sind, denn auch Informationen, die eine günstigere Beurteilung erlauben, sind einzubeziehen. Der Umfang der Bandbreite wird demzufolge durch die zugrunde liegenden Informationen und Erfahrungswerte determiniert. Dem Vorsichtsprinzip entsprechend ist aus der Bandbreite stets der etwas pessimistischere als der wahrscheinlichste Wert auszuwählen. Unabhängig davon, ob sich der gewählte Wert im unteren oder im oberen Bereich der Bandbreite befindet, muss die Höhe der gebildeten Rückstellung gem. § 238 Abs. 1 Satz 2 HGB i. V. m. § 5 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz EStG durch einen Dritten nachvollzogen werden können.
3.2.2 Abzinsung von Rückstellungen und Verbindlichkeiten
Rz. 95
Gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 3a Buchst. e EStG herrscht in der Steuerbilanz ein generelles Abzinsungsgebot von unverzinslichen Verbindlichkeiten und Rückstellungen mit einer Restlaufzeit von mindestens einem Jahr, soweit die Verbindlichkeiten und Rückstellungen nicht auf einer Anzahlung oder auf einer Vorauszahlung beruhen. Dabei fungiert als Zinssatz unter Beachtung des Bewertungsvorbehalts gem. § 5 Abs. 6 EStG der gesetzlich vorgeschriebene Wert i. H. v. 5,5 %. Die Abzinsung führt in der Steuerbilanz des Darlehensnehmers zu einem außerordentlichen Ertrag im Jahr der Darlehensaufnahme, was im Übrigen dem Realisationsprinzip zuwiderläuft, sowie zu entsprechendem außerordentlichen Aufwand in den Folgejahren aufgrund der sukzessiven Aufzinsung des Barwerts der Schuld. Dagegen hat bei verzinslichen Verbindlichkeiten und Rückstellungen, d. h. Schulden, bei denen ein Zinssatz vereinbart wurde, eine Abzinsung im Umkehrschluss zu unterbleiben. Um eine aus gesetzgeberischer Sicht unangemessen hohe Bewertung von Rückstellungen zu verhindern, sieht R 6.11 Abs. 3 Satz 1 EStR 2012 vor, dass mit Ausnahme der Pensionsrückstellungen die Höhe der Rückstellung in der Steuerbilanz den zulässigen Ansatz in der Handelsbilanz nicht überschreiten darf.
Jene Regelung in Gestalt einer Deckelung der steuerlichen durch die (niedrigere) handelsrechtliche Rückstellungshöhe ist insbesondere deshalb zu kritisieren, da erstens der spezielle steuerliche Bewertungsvorbehalt des § 5 Abs. 6 EStG die handelsrechlichen Bewertu...