Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
1. Für die Beantwortung der Frage, ob eine gemäß § 3 Nr. 11 EStG steuerfreie Beihilfe oder die steuerpflichtige Vergütung einer erwerbsmäßigen Tätigkeit vorliegt, sind Inhalt und Durchführung des jeweiligen Betreuungsverhältnisses maßgebend.
2. Leistungen, die aus öffentlichen Mitteln der Jugendhilfe für eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung verhaltensauffälliger Kinder bzw. Jugendlicher erbracht werden, können gemäß § 3 Nr. 11 EStG steuerfreie Bezüge sein. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn jeweils nur ein Kind bzw. ein Jugendlicher zeitlich unbefristet in den Haushalt des Betreuers aufgenommen und dort umfassend betreut wird.
Normenkette
§ 3 Nr. 11 EStG, § 33, § 35 SGB VIII
Sachverhalt
Der Kläger ist ausgebildeter Erzieher. Er nahm in den Streitjahren 2012 und 2013 jeweils ein verhaltensauffälliges Kind oder einen verhaltensauffälligen Jugendlichen zur Betreuung in seinen Haushalt auf. Die Betreuung erfolgte in Vollzeit. Der Kläger erhielt hierfür ein Entgelt in Höhe von 3.000 EUR bis 3.600 EUR monatlich von einem Träger der freien Jugendhilfe. Die der Betreuung zugrunde liegende vertragliche Vereinbarung war jederzeit kündbar. Das FA unterwarf die vom Kläger vereinnahmten Entgelte der Einkommensteuer. Dagegen machte der Kläger geltend, dass die Einkünfte nach § 3 Nr. 11 EStG steuerfrei seien. Er habe die Leistungen nach § 35 SGB VIII erbracht. Die von ihm vereinnahmten Gelder seien ausschließlich für Erziehungsleistungen aus öffentlichen Mitteln gezahlt worden. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30.1.2018, 9 K 9105/16, Haufe-Index 11732229, EFG 2018, 1699).
Entscheidung
Der BFH hat der Revision des Klägers und der Klage stattgegeben.
Hinweis
1. Bezüge aus öffentlichen Mitteln, die als Beihilfe zu dem Zweck bewilligt werden, die Erziehung unmittelbar zu fördern, sind nach § 3 Nr. 11 Satz 1 EStG steuerfrei. Hierunter fallen nach der Rechtsprechung des BFH Pflegegelder und Zuschüsse, die im Rahmen einer Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII gezahlt werden. Grund hierfür ist, dass mit der Zahlung der Pflegegelder keine vollständige Ersetzung des sachlichen und zeitlichen Aufwands der Pflegeeltern beabsichtigt ist. Ein nicht steuerfreier Bezug von Pflegegeld liegt bei einer Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII erst dann vor, wenn von der Pflegeperson mehr als sechs Kinder gleichzeitig in den Haushalt aufgenommen werden.
2. Für die Beurteilung der Frage, ob die an die Pflegeeltern gezahlten Erziehungsgelder die Voraussetzung für eine steuerfreie Beihilfe zur Erziehung i.S.d. § 3 Nr. 11 EStG erfüllen, kommt es auf Inhalt und Durchführung des Pflegeverhältnisses an. Im vorliegenden Fall hatte der Kläger jeweils nur ein Kind in seinen Haushalt aufgenommen und mit diesem in einer häuslichen Gemeinschaft gelebt. Es erfolgte eine individuelle und umfassende Betreuung, sodass die Tätigkeit des Klägers – entgegen der Auffassung des FG – mit der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII vergleichbar war. Dabei ist es ohne Belang, dass der Kläger seine Leistungen als Betreuung im Rahmen einer stationären Jugendhilfemaßnahme nach § 35 SGB VII bezeichnet hat und ob diese sozialrechtliche Einordnung zutreffend ist.
3. Es steht der Steuerfreiheit der Bezüge nicht entgegen, dass der Kläger ein über den Regelsätzen für die Vollzeitpflege von Kindern und Jugendlichen liegendes Pflegegeld bezogen hat. Nach Auffassung des BFH kann weder aus der besonderen Qualifikation des Klägers noch aus dem bedarfsabhängigen erhöhten Pflegegeld gefolgert werden, dass die Aufnahme der Kinder und Jugendlichen in den Haushalt des Klägers zu Erwerbszwecken erfolgte. Die Annahme einer erwerbsmäßigen Betreuung ist im Zusammenhang mit einer Aufnahme von Kindern und Jugendlichen in den eigenen Haushalt – wie in den Fällen der Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII – nur dann gerechtfertigt, wenn andere Umstände, wie z.B. die Anzahl der durch die Pflegeperson betreuten Kinder bzw. Jugendlichen, für einen Vergütungscharakter der gezahlten Gelder sprechen.
4. Auch dass die mit den Trägern der freien Jugendhilfe geschlossenen Verträge jederzeit kündbar waren, führt nicht zur Annahme einer Erwerbstätigkeit. Die dem Schutz der Kinder und Jugendlichen dienende Möglichkeit einer kurzfristigen Beendigung des Betreuungsverhältnisses besagt nicht, dass dieses lediglich auf einen kurzen Zeitraum angelegt war.
5. Bei den Leistungen handelt es sich auch um öffentliche Mittel i.S.d. § 3 Nr. 11 EStG. Dem steht der Umstand, dass die Zahlungen an den Kläger über einen zwischengeschalteten Träger der freien Jugendhilfe geleistet wurden, nicht entgegen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 14.7.2020 – VIII R 27/18