OFD Karlsruhe, Verfügung v. 1.8.2001, S 0340/1
1. Die Anwendung der 10-jährigen Festsetzungsfrist setzt voraus, dass eine Steuerhinterziehung (§ 370 AO), d.h. eine vorsätzliche Steuerverkürzung vorliegt. Der Tatbestand des § 370 AO muss objektiv und subjektiv erfüllt sein (BFH-Urteile vom 10.10.1972, BStBl 1973 II S. 68, und vom 16.1.1973, BStBl 1973 II S. 273). Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe stehen der Annahme der 10-jährigen Festsetzungsfrist nicht entgegen. Eine strafbefreiende Selbstanzeige schließt daher die Geltung der 10-jährigen Festsetzungsfrist nicht aus. Gleiches gilt, wenn das Strafverfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist (z.B. nach §§ 153, 153a StPO, 398 AO) oder wenn der Strafverfolgung andere Hindernisse (z.B. Tod des Täters, Strafverfolgungsverjährung) entgegenstehen.
Von einer leichtfertigen Steuerverkürzung und damit der 5-jährigen Festsetzungsfrist ist auszugehen, wenn die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des § 378 AO erfüllt, d.h. objektiv gesehen die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung gegeben sind, der Täter aber nicht vorsätzlich, sondern nur leichtfertig gehandelt hat (zum Begriff der Leichtfertigkeit Hinweis auf BFH-Urteil vom 19.12.2002, BStBl 2003 II S. 385).
2. Ob ein hinterzogener oder leichtfertig verkürzter Steuerbetrag vorliegt und damit die 10-jährige oder 5-jährige Festsetzungsfrist in Betracht kommt, ist im Rahmen des Besteuerungsverfahrens von der für die Festsetzung der Steuer zuständigen Stelle zu prüfen und zu entscheiden. In Zweifelsfällen ist die Stellungnahme der Straf- und Bußgeldsachenstelle einzuholen.
An die Entscheidung in einem etwaigen Straf- und Bußgeldverfahren ist die Festsetzungsstelle nicht gebunden. Die in einem Straf- oder Bußgeldverfahren getroffenen Feststellungen können jedoch im Regelfall für das Besteuerungsverfahren übernommen werden (BFH-Urteile vom 12.1.1988, BFH/NV 1988 S. 692, und vom 13.7.1994, BStBl 1995 II S. 198).
Liegen in einem Straf- oder Bußgeldverfahren getroffene Feststellungen nicht vor, hat die Festsetzungsstelle den für die Feststellung der Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung erheblichen Sachverhalt aufzuklären. Die Weigerung des Steuerpflichtigen, hierbei mitzuwirken, begrenzt die Sachaufklärungspflicht des Finanzamts nicht.
3. Hinsichtlich des Vorliegens einer Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung trägt das FA die objektive Beweislast (Feststellungslast). Nach Abschluss der Sachverhaltsermittlungen verbleibende Ungewissheiten in tatsächlicher Hinsicht gehen daher zu seinen Lasten. Soweit ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Steuerhinterziehung bzw. leichtfertigen Steuerverkürzung nicht ausgeräumt werden können, hat das FA somit zugunsten des Steuerpflichtigen zu entscheiden (BFH-Beschluss vom 5.3.1979, BStBl 1979 II S. 570, und BFH-Urteile vom 21.10.1988, BStBl 1989 II S. 216, vom 27.8.1991, BStBl 1992 II S. 9, vom 14.8.1991, BStBl 1992 II S. 128, und vom 12.3.1992, BStBl 1993 II S. 36).
4. Die verlängerten Festsetzungsfristen von 5 und 10 Jahren gelten unabhängig davon, ob der Steuerschuldner, sein Vertreter oder sein Erfüllungsgehilfe der Täter ist. Entsprechend dem Wortlaut des Gesetzes kommt es für die Geltung der verlängerten Festsetzungsfrist nur darauf an, dass die Steuer hinterzogen (leichtfertig verkürzt) ist und nicht darauf, wer die Steuer hinterzogen (leichtfertig verkürzt) hat. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Steuerhinterziehung (leichtfertige Steuerverkürzung) von einer sonstigen, nicht vom Steuerschuldner beauftragten Person begangen worden ist; zur Exkulpationsmöglichkeit des Steuerschuldners in diesen Fällen Hinweis auf § 169 Abs. 2 Satz 3 AO und BFH-Urteil vom 31.1.1989, BStBl 1989 II S. 442.
Da es nicht darauf ankommt, wer die Steuer hinterzogen oder leichtfertig verkürzt hat, muss bei Gesamtschuldnerschaft jeder Gesamtschuldner die Steuerhinterziehung bzw. leichtfertige Steuerverkürzung eines anderen Gesamtschuldners gegen sich gelten lassen.
5. Der Erbe tritt als Gesamtrechtsnachfolger in die Rechtsstellung des Erblassers ein (§ 45 AO). Die längere Festsetzungsfrist geht damit auf den Erben über, wenn der Erblasser Steuern hinterzogen oder leichtfertig verkürzt hat.
Um die in der Person eines verstorbenen Steuerschuldners entstandenen Steueransprüche gegen die Erben des Steuerschuldners festzusetzen, hat das FA daher ggf. zu prüfen, ob der verstorbene Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung begangen hat (BFH-Urteil vom 27.8.1991, BStBl 1992 II S. 9). Sofern die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung in der Person des verstorbenen Steuerpflichtigen erfüllt sind, gilt die 10-jährige bzw. 5-jährige Festsetzungsfrist auch gegenüber dem Erben. Auch kommt im Fall der Steuerhinterziehung durch den verstorbenen Steuerpflichtigen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen in Betracht (BFH-Urteil vom 1.8.2001, BFH/NV 200...