Der Grundsatz der Wesentlichkeit (materiality) überlagert vor allem die Ausweis- und Bewertungsvorschriften zum Jahresabschluss. Er kann es gebieten oder zulassen,
- in der Regel separat auszuweisende, aber im konkreten Fall unwesentliche Posten mit anderen Posten zusammenzufassen (Ausweis),
- auf eine an sich gebotene, im konkreten Fall aber unwesentliche Abzinsung einer Rückstellung zu verzichten (Bewertung).
Tipp
Für den Bilanzansatz ist der materiality-Grundsatz nur ausnahmsweise wichtig. In der Buchhaltung, und damit für die Bilanz, sind sämtliche Geschäftsvorfälle zu berücksichtigen. Das Vollständigkeitsgebot lässt grundsätzlich keine Ausnahmen ("kleine Beträge buchen wir erst gar nicht") zu. In der praktischen Arbeit kann es aber vorkommen, dass die Bilanz schon fertiggestellt ist und erst danach eine das alte Jahr betreffende Rechnung hereinkommt. Ob man hier die Bilanz noch einmal aufrollen, den bisher nicht berücksichtigten Kreditor einbuchen und die Folgewirkungen auf Umsatzsteuerverrechnungskonto, Erfolgstantiemen, Steuerrückstellungen usw. berücksichtigen muss (der Praktiker weiß, wovon die Rede ist), ist eine Frage der Wesentlichkeit, die individuell beantwortet werden muss. Das IFRS Practice Statement Making Materiality Judgements aus 2017 gibt Beispiele und allgemeine Hinweise zur Strukturierung einer Wesentlichkeitsentscheidung.
Die hohe Bedeutung des materiality-Grundsatzes für die IFRS-Rechnungslegung zeigt sich auch daran, dass bis 2002 jeder Standard mit folgendem Hinweis begann: "International Accounting Standards brauchen nicht auf unwesentliche Sachverhalte angewendet zu werden." Eine analoge Formulierung findet sich jetzt in IAS 8.8: "Die IFRS legen Rechnungslegungsmethoden fest... Diese Methoden müssen nicht angewandt werden, wenn die Auswirkung ihrer Anwendung unwesentlich ist." Trotz dieser Bedeutung wird man eine scharfe Definition der Wesentlichkeit in den IFRS-Vorschriften vergeblich suchen. Was wesentlich oder unwesentlich ist, ist Sache der Beurteilung im konkreten Einzelfall und damit einer allgemeinen Definition nicht zugänglich.
Diese Beurteilung des Einzelfalls hat sich an den Zwecken der Bilanz und damit an den Bedürfnissen der Bilanzadressaten zu orientieren. Informationen sind wesentlich, wenn ihr Weglassen oder ihre fehlerhafte Darstellung "die auf der Basis des Abschlusses getroffenen Entscheidungen der Adressaten beeinflussen könnten" (IAS 8.5).
Das Wesentlichkeitsurteil kann je nach konkretem Einzelfall eher von qualitativen oder eher von quantitativen Faktoren geprägt werden: Es werden bspw. einzelne Vermögenswerte mit gleicher Art und Funktion zusammengefasst, auch wenn die einzelnen Beträge groß sind.
Eine Regelverletzung kann auch dann material sein, wenn sie prozentual unbedeutend erscheint, aber bewusst eingesetzt wird, um z. B. Analysten- oder Bankerwartungen zu erfüllen oder Schwellenwerte für Tantiemeansprüche zu erreichen (IAS 8.8).
Beispiel
Die an der NYSE notierte Citizens Utilities Co. hat mehr als 50 Jahre lang hintereinander immer einen Zuwachs an Umsatz ausgewiesen.
Um diesen Trend beizubehalten, hat die Gesellschaft die Erfassung von Umsatz von einem (diesem Trend mehr als entsprechenden) Jahr in das nächste (tatsächlich leicht rückläufige) Jahr verschoben.
Betroffen waren nur 1,7 % der Umsatzerlöse. Gerade dadurch sollten aber die Unterbrechung der über 50-jährigen Erfolgsgeschichte verheimlicht und die entsprechenden Analystenerwartungen bestätigt werden.
Die SEC hat diese Vorgehensweise als "material" betrachtet. Die Entscheidung ist konsequent, da es nicht um eine prozentuale bzw. "analoge" Frage (etwas mehr oder weniger), sondern um eine "digitale" Frage (Analystenerwartungen erfüllt/nicht erfüllt, Erfolgsgeschichte ungebrochen/gebrochen) ging.
In der praktischen Arbeit hat der materiality-Aspekt vor allem bei den Anhangangaben (notes) eine starke Entlastungswirkung. Für die meisten Bilanz- und GuV-Posten kommt eine Vielzahl von Anhangangaben infrage, aber nur wenige sind im Regelfall wesentlich.