In der Diskussion um die Vorteile der internationalen Rechnungslegung spielt das Prinzip der (true and) fair presentation (IAS 1) bzw. faithful representation (Conceptual Framework) eine wichtige Rolle. Das Conceptual Framework enthält hierzu eher abstrakte Aussagen.
Konkrete Vorgaben gibt IAS 1 unter der Überschrift "Fair Presentation" ("Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bilds"). Drei Äußerungen stehen im Mittelpunkt:
- "Abschlüsse haben die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage sowie die Cashflows eines Unternehmens den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend (fairly) darzustellen" (IAS 1.15).
- "Unter nahezu allen Umständen wird ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild (fair presentation) durch Übereinstimmung mit den anzuwendenden IFRS erreicht" (IAS 1.17).
- "In den äußerst seltenen Fällen, in denen das Management zu dem Ergebnis kommt, dass die Einhaltung einer in einem IFRS enthaltenen Anforderung so irreführend wäre, dass sie zu einem Konflikt mit dem im Rahmenkonzept dargestellten Zweck führen würde, hat ein Unternehmen von dieser Anforderung unter Beachtung der Vorgaben des Paragraphen 20 abzuweichen" (sog. principle override; IAS 1.19). Es hätte dann in einer Art Schattenbilanzierung die Abweichungen von einer den Einzelregeln entsprechenden Bilanzierung offenzulegen (IAS 1.20(d)).
Der Gedanke der true and fair presentation hat zu Missverständnissen geführt. Qualifizierungen der internationalen Rechnungslegung als im Vergleich zum HGB kapitalmarktorientierter, entscheidungsnützlicher, "truer and fairer" usw. beruhen allzu häufig auf einer Verwechslung von Sollen und Sein. Es ist deutlich, dass die internationale Rechnungslegung all dies sein soll; ob sie es wirklich ist, steht auf einem anderen, größtenteils noch unbeschriebenen Blatt. M. E. gibt es genügend andere Vorteile der internationalen Rechnungslegung. Sie konkretisiert wichtige Fragen, die EU-Bilanzrichtlinie und HGB nicht oder nur ganz abstrakt behandeln (z. B. wirtschaftliches Eigentum beim Leasing). Sie dient der länderübergreifenden Vereinheitlichung und ist geeignet, eine babylonische Sprachverwirrung zu beenden. Einen darüber hinausgehenden Vorzug in Form einer höheren Wirklichkeitstreue muss man hingegen von der Internationalisierung der Rechnungslegung nicht unbedingt erwarten.
In dieser Richtung ist der true-and-fair-Grundsatz aber auch nicht angelegt. Die Aussage in IAS 1.17, dass die korrekte Anwendung der Einzelvorschriften in nahezu allen Fällen zu Abschlüssen führe, die ein faires Bild vermitteln, hat m. E. nicht den Charakter einer Tatsachenbehauptung. Sie hat vielmehr einen normativen Gehalt: als wirklichkeitsgetreue Abbildung ist per Definition anzuerkennen, was in Befolgung der IFRS-Regeln zustande gebracht wird. Diese normative Aussage entzieht sich einer Widerlegung durch empirische Beobachtung. Aus dieser grundsätzlichen Sicht hat das Konzept der true and fair presentation hauptsächlich die Funktion einer rechtfertigenden Maxime:
- auf Theorieebene in der Konkurrenz verschiedener Rechnungslegungssysteme,
- auf der Anwendungsebene in der Diskussion über im Einzelfall ausnahmsweise zulässige, notwendige oder zu rechtfertigende Regelbrüche.
Auf der Theorieebene wird der Ausgang jeden Vergleichs mit anderen Rechnungslegungssystemen vorentschieden. Wenn das IFRS-Regelwerk normativ festlegt, was true and fair ist, steht die Antwort, ob die Handelsbilanz genauso true and fair ist, schon fest: sie kann dies nur insoweit sein, als sie dem IFRS-Regelwerk nicht widerspricht. Auf diese Weise werden nicht zwei Regelsysteme gegen ein unabhängiges Drittkriterium verglichen, sondern ein System gegen die Regeln des anderen. In einer Religionsanalogie wäre dies etwa so, als ob die Regeln des katholischen Katechismus Christlichkeit definieren würden und anschließend auf dieser Definitionsbasis die Christlichkeit von Katholiken und Protestanten verglichen würde. Man würde nicht überrascht sein, wenn Protestanten in einem solchen Vergleich schlechter abschnitten.
Auf der Anwendungsebene besteht eine Gefahr darin, dass Einzelne das true-and-fair-Konzept missbrauchen, um Regeln für ihre Zwecke zurechtzubiegen, zu umgehen, zu missachten.
Die Gefahr wird dadurch begrenzt, dass das true-and-fair-Konzept kein overriding principle ist, das nach Belieben Vorrang vor den Einzelbestimmungen hat. In fast allen Fällen ("virtually all circumstances") sind die Einzelregelungen zu beachten, Abweichungen demzufolge nur in äußerst seltenen Fällen ("extremely rare circumstances") zulässig. Derartige Ausnahmefälle sind zudem offenzulegen und zu begründen. Außerdem ist in einer Art "Schattenbilanzierung" die Wirkung auf Periodenergebnis, Vermögenswerte, Schulden, Eigenkapital und cash flow zu quantifizieren (IAS 1.20). Der missbräuchlichen Verwendung des true and fair durch die bilanzierende Praxis wird damit ein stabiler Riegel vorgeschoben.