Leitsatz
1. Die nach dem Urteil des EuGH vom 15.6.2000, Rs. C-365/98 (EuGHE 2000, I-4619) hinsichtlich des Steuersatzes für Zigarren/Zigarillos gemeinschaftsrechtswidrige Norm des § 4 Abs. 1 Nr. 2 TabStG i.d.F. von Art. 1 des Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetzes vom 21.12. 1992 ist konform der Richtlinie 92/80/EWG in dem Sinne Steuer erhaltend auszulegen, dass allein die reine Ad-Valorem-Komponente dieses Steuersatzes (5 % des Kleinverkaufspreises) für die Besteuerung maßgeblich ist; die den Ad-Valorem-Satz modifizierende Mindestbetragsregelung ("mindestens 3,1 Pf je Stück") darf nicht angewendet werden.
2. Das Fehlen eines subjektiven Anspruchs des Steuerpflichtigen auf Anwendung allein der Ad-Valorem-Komponente des Steuersatzes schließt es nicht aus, dass eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Steuervorschrift gerade zu diesem Ergebnis führt.
3. Ist einer gemeinschaftsrechtswidrigen Norm, um das mit einer Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen, gleichwohl im Wege gemeinschaftsfreundlicher richtlinienkonformer Auslegung ein Anwendungsbereich beizumessen, so können die üblichen Auslegungskriterien nur dann berücksichtigt werden, wenn sie auch im Wortlaut oder in den Zielen der entsprechenden Richtlinie zum Ausdruck kommen.
Normenkette
§ 4 Abs. 1 Nr. 2 TabStG (i.d.F. des Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetzes) , Art. 10 EG i.d.F. des Vertrags von Amsterdam , Art. 249 Abs. 3 EG i.d.F. des Vertrags von Amsterdam , Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 92/80/EWG
Sachverhalt
Ein Tabakfabrikant hatte über die Besteuerung seiner Zigarillos eine Steueranmeldung nach Maßgabe des TabakStG abgegeben; er hatte also je Zigarillo 5 % des Kleinverkaufspreises, mindestens jedoch 3,1 Pfennig, angesetzt. Zugleich hatte er aber dagegen Einspruch eingelegt, weil die Besteuerung gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstoße. Die später erhobene Klage hatte mit dem Ergebnis Erfolg, dass die Steuer nur nach dem vorgenannten Prozentsatz zu berechnen sei.
Entscheidung
Der BFH hat dieses Urteil des FG bestätigt. Vorausgegangen war eine Vorabentscheidung des EuGH. Danach lässt die Richtlinie 92/80/EWG die Erhebung einer Steuer nach dem Wert der Tabakwaren bei gleichzeitiger Anwendung eines Mindestbetrags der Steuer nicht zu. Der Steuerpflichtige habe aber, wo das nationale Recht Wert-Steuer und Mindeststeuer gemeinschaftsrechtswidrig kombiniert, kein Recht zu verlangen, dass allein die Erhebung der Mindeststeuer unterbleibt und dass er daher nur mit einer Warenwert-Steuer veranlagt wird. Der EuGH verlangt in seiner Entscheidung jedoch weiter, dass das nationale Gericht "bei der Anwendung der ... nationalen Rechtsvorschriften diese soweit wie möglich gemäß dem Wortlaut und dem Zweck der Richtlinie auslegt".
Der BFH nimmt diese "Auslegung" dahin vor, dass er den Mindeststeuersatz nicht anwendet, die Zigarillos also im Ergebnis – anders als der EuGH – ausschließlich nach dem Warenwert besteuert wissen will. Das entspreche dem aus dem Urteil des EuGH abzuleitenden Gebot "Steuer erhaltender" Auslegung des TabakStG. Wesentliche Bedeutung misst der BFH dabei dem Wortlaut des TabakStG zu, aus dem er ableitet, dass der Steuersatz "seiner Natur nach" ein (als solcher richtlinienkonformer) Wertsteuersatz sei.
Nicht richtlinienkonform sei die Verbindung des Wertsteuersatzes mit einem Mindeststeuersatz, wobei diese Regelung jedoch dahin ausgelegt werden könne, dass dieser Mindeststeuersatz nicht anzuwenden ist. Daran hindere nicht, dass der EuGH einen Anspruch des Steuerpflichtigen auf Anwendung nur des Wertsteuersatzes gerade verneint habe und der nationale Gesetzgeber gerade dem Mindeststeuersatz wesentliche Bedeutung für die Erreichung seines Besteuerungszwecks beigemessen habe.
Hinweis
1. Vorabentscheidungen des EuGH sind für das nationale Gericht in dem Rechtsstreit, in dem sie eingeholt worden sind, bindend. Darüber hinaus entfalten sie jedenfalls in dem Sinn faktische Bindungswirkung, dass das nationale Gericht sich über die vom EuGH aufgestellten Rechtssätze nicht hinwegsetzen darf, ohne den EuGH erneut gem. Art. 234 EG zu befragen.
Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH ist ein bloßes Zwischenverfahren: Der EuGH kann den Rechtsstreit nicht selbst entscheiden; er kann nicht einmal die für dessen Entscheidung erforderlichen Rechtssätze aufstellen, soweit nationales Recht anzuwenden ist; er kann auch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts nicht selbst vornehmen; er kann nur das Gemeinschaftsrecht auslegen und muss es dem nationalen Gericht überlassen, die daraus bei der Entscheidung des Rechtsstreits, die diesem obliegt, zu ziehenden Konsequenzen zu erkennen.
Das kann mitunter zu erheblichen Schwierigkeiten führen, wenn aus der Sicht des nationalen Gerichts die vom EuGH formulierten (gemeinschaftsrechtlichen) Rechtssätze zum nationalen Recht gleichsam inkompatibel sind, also nicht "passen". Vollends aporetisch wird die Situation, wenn der EuGH in einem solchen Fall zugleich die schlichte Nicht-Anwendung nation...