Leitsatz
1. Eine – nicht aus zoll- oder beförderungstechnischen Gründen bedingte – auch nur zeitweilige Entfernung des Versandscheins von der Ware führt im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren zu einem Entziehen der Ware aus der zollamtlichen Überwachung und begründet folglich die Abgabenschuld (Anschluss an das EuGH-Urteil vom 29.4.2004, Rs. C-222/01).
2. Die Regelung des § 10 Abs. 1 Satz 1 TabStG 1980, wonach die Tabaksteuerschuld infolge der Nichtverweisung auf die zollrechtlichen Vorschriften über das Erlöschen der Zollschuld bei einer Einziehung der tabaksteuerpflichtigen Ware nicht erlosch, verstieß nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, sondern war durch sachgerechte Gründe gerechtfertigt.
3. Geht eine Zuwiderhandlung gegen das gemeinschaftliche Versandverfahren auf das Verhalten eines als verdeckter Ermittler auftretenden Zollfahndungsbeamten zurück (sog. "agent provocateur"), liegt darin ein besonderer Umstand, der zum Erlass/zur Erstattung der dadurch hervorgerufenen Abgabenschuld führen kann (Anschluss an das EuGH-Urteil vom 29.4.2004, Rs. C-222/01).
4. Dem Anspruch auf Erlass/Erstattung des Hauptverpflichteten eines gemeinschaftlichen Versandverfahrens nach Art. 13 VO Nr. 1430/79 steht das Verschulden von Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner zollrechtlichen Pflichten aus dem Versandverfahren bedient hat, nicht entgegen. Schädlich ist nur eigenes Verschulden in Form von betrügerischer Absicht oder offensichtlicher Fahrlässigkeit (Änderung der Rechtsprechung im Anschluss an das EuGH-Urteil vom 29.4.2004, Rs. C-222/01).
Normenkette
Art. 2 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 Satz 1 VO Nr. 1430/79, Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 8 Abs. 1 Buchst. b VO Nr. 2144/87, Art. 4 Abs. 2 VO Nr. 1031/88, Art. 11 Buchst. a VO Nr. 222/77, Art. 4 VO Nr. 3799/86, Art. 3 Abs. 1 GG, § 10 Abs. 1 Satz 1 TabStG 1980, § 21 Satz 1 TabStG 1993
Sachverhalt
Einem Zollbeamten waren Zigaretten ohne Steuerbanderolen zum Kauf angeboten worden. Um der Schmuggler habhaft zu werden, ließ dieser sich auf das Geschäft ein.
Verabredungsgemäß wurde ein Lkw auf den Hof einer Spedition gebracht, die verplombte Ladetür geöffnet und mit dem Entladen des mit Zigaretten beladenen Lkw begonnen. Dann wurden der Fahrer und sein Beifahrer festgenommen. Die Zigaretten wurden beschlagnahmt und vernichtet.
Das HZA sah im Aufbrechen des Lkw zur Entladung der Zigaretten, die sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befanden, eine Entziehung der Ware aus der zollamtlichen Überwachung und nahm deshalb die Versenderin (Hauptverpflichtete des Versandverfahrens) als Abgabenschuldnerin in Anspruch. Diese begehrte jedoch Erstattung der Steuer.
Entscheidung
Der Klägerin steht ein Steuererstattungsanspruch aus Rechtsgründen nicht zu (schon die zeitweilige Entfernung des Versandscheins von der Ware, zu der es in Verlauf des Versands gekommen war, nicht erst das Aufbrechen des Zollverschlusses hatte genügt, um die Steuer entstehen zu lassen). Eine Erstattung aus Billigkeitsgründen kann aber u.U. gewährt werden; der BFH lässt dazu durch das FG im zweiten Rechtsgang prüfen, ob ein solcher Erlass rechtfertigt, dass die Zollbehörden ohne Wissen des Hauptverpflichteten ermittelt und im Verlauf der Ermittlungen die Begehung von Zuwiderhandlungen im Versandverfahren provoziert und auf diese Weise die Entstehung der Tabaksteuerschuld bewirkt haben.
Hinweis
1. Beim Verbringen von Waren in das Erhebungsgebiet der deutschen Verbrauchsteuern verweisen die Gesetze hinsichtlich der Entstehung der Steuern, der Person des Steuerschuldners und der Erstattung der Steuern auf die sinngemäße Anwendung der Vorschriften für Zölle, also insbesondere ZK und ZKDVO (im Streitfall noch die alte VO Nr. 1430/79 und 2144/87). Das gilt auch dann, wenn bei der konkreten Einfuhr kein Zoll zu erheben ist, wie bei Waren aus anderen Mitgliedstaaten der EU.
Deshalb hatte der BFH für die Entscheidung eine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt (siehe dazu EuGH-Urteil vom 29.4.2004, Rs. C-222/01, BFH/NV Beilage 2004, 286), weil die Zweifelsfragen im Wesentlichen das Gemeinschaftsrecht (nicht das deutsche TabakStG) betrafen.
2. Die zeitweilige Entfernung eines Versandscheins von der Ware, auf die er sich bezieht, stellt eine Entziehung der Ware aus der zollamtlichen Überwachung dar, auch wenn die Zollverwaltung die Vorlage des Versandscheins nicht verlangt hat und ihr der Schein ohne nennenswerte Verzögerung hätte vorgelegt werden können. Offen ist, ob dies auch bei einem gleichsam betriebsnotwendigen kurzfristigen Entfernen gilt, z.B. während einer Fahrtpause, einer Reparatur des Fahrzeugs oder dergleichen.
3. Gehen Zuwiderhandlungen im Versandverfahren auf einen als agent provocateur tätigen Zollfahndungsbeamten zurück, stellt dies keinen Umstand dar, der den Erlass der Abgaben rechtfertigten kann (vgl. heute Art. 239 ZK, Art. 305 ZKDVO).
4. Erlass und Erstattung von Abgaben kommen nach Gemeinschaftsrecht auch dann in Betracht, wenn Personen, deren sich der Hauptverpflichtete bedient hat, um se...