Leitsatz
"Mehrjährig" i.S.d. § 34 Abs. 3 EStG a.F. (jetzt: § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG) ist eine Tätigkeit, die sich über zwei Veranlagungszeiträume erstreckt, auch dann, wenn sie einen Zeitraum von weniger als zwölf Monaten umfasst.
Normenkette
§ 34 Abs. 3 EStG (in der bis 31.12.1998 geltenden Fassung) , § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG
Sachverhalt
Aufgrund eines Vergleichs vor dem Arbeitsgericht erhielt der Kläger von seinem früheren Arbeitgeber verschiedene Nachzahlungen, und zwar für die Zeit von Juni bis Ende 1992 (rd. 96.000 DM) und für Januar und Februar 1993 (rd. 13.000 DM). Der Gesamtbetrag i.H.v. rd. 109.000 DM wurde dem Kläger Mitte 1993 ausgezahlt.
Das FA lehnte es ab, die Nachzahlung nach § 34 Abs. 3 EStG a.F. als Vergütung für eine mehrjährige Tätigkeit zu behandeln. Das FG entschied, dass die Voraussetzungen der Tarifbegünstigung erfüllt seien.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des FA als unbegründet zurück. Wenn sich die abgegoltene Tätigkeit über zwei Veranlagungszeiträume erstrecke, sei sie auch dann "mehrjährig", wenn sie insgesamt einen Zeitraum von weniger als zwölf Monaten umfasse. Es stehe der Würdigung als Vergütung für eine mehrjährige Tätigkeit auch nicht entgegen, dass sich die zugeflossene Gesamtvergütung aus mehreren Beträgen zusammensetze, die rechnerisch jeweils bestimmten Zeitabschnitten zugeordnet werden könnten.
Hinweis
1. Die Verwaltung vertrat bisher die Auffassung (vgl. R 200 Abs. 3 EStR), dass eine Vergütung für eine mehrjährige Tätigkeit i.S.d. (jetzt) § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG nur dann vorliegt, wenn sich die Tätigkeit über einen Zeitraum von mehr als 12 Monate erstreckt. Sie konnte sich dabei insbesondere auf ältere Rechtsprechung des BFH zu dem im Wesentlichen gleich lautenden § 34 Abs. 3 EStG (bis VZ 1989) berufen. In den dortigen Urteilen war jeweils von Zahlungen für einen mehr als 12 Monate umfassenden Zeitraum die Rede. Allerdings handelte es sich in den damaligen Entscheidungen um nicht tragende Gründe bzw. beiläufige Bemerkungen (sog. obiter dicta).
2. Demgegenüber vertritt die Literatur nahezu einhellig die Auffassung, dass das Tatbestandsmerkmal "mehrjährig" bereits dann erfüllt ist, wenn die Tätigkeit in wenigstens zwei Veranlagungszeiträumen ausgeübt wird. Es genügt, dass zwei Veranlagungszeiträume berührt werden; es wird nicht als erforderlich angesehen, dass sich die Tätigkeit über einen Zeitraum von mehr als 12 Monaten erstreckt.
3. Der letztgenannten Ansicht hat sich der BFH angeschlossen. Er hat dabei insbesondere auf den Zweck der Regelung abgestellt. Durch die Tarifbegünstigung des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG soll erreicht werden, dass die steuerliche Belastung für Einkünfte, die dem Steuerpflichtigen in einem Veranlagungszeitraum für die Tätigkeit mehrerer Jahre zufließen, möglichst nicht höher wird, als wenn ihm in jedem Jahr ein Anteil hiervon zugeflossen wäre. Oder kürzer ausgedrückt: bei zusammengeballten Vergütungen soll die Mehrbelastung ausgeglichen bzw. die Progressionswirkung abgemildert werden.
4. Geht man hiervon aus, kann nicht zweifelhaft sein, dass der durch die Progressionswirkung auftretende Belastungseffekt auch dann schon eintritt, wenn Vergütungen vorliegen, die zwar zwei Veranlagungszeiträume betreffen, jedoch keine zwölf Monate umfassen.
5. Der BFH machte jedoch nochmals klar, dass die bloße Nachzahlung von Bezügen (für einen Veranlagungszeitraum) die Tarifbegünstigung des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG noch nicht auslöst. Vielmehr müssen die betreffenden Einkünfte für sich betrachtet Entgelt für eine mehrjährige Tätigkeit darstellen.
6. Die Besprechungsentscheidung kann auch Bedeutung haben für die Beurteilung geldwerter Vorteile aus Aktienoptionen. Beim BFH sind mehrere Revisionen anhängig, in denen darüber zu entscheiden ist, ob (ggf. unter welchen Umständen) bei der Besteuerung sog. stock options die erwähnte Tarifvorschrift eingreift (vgl. auch BFH, Urteil vom 24.1.2001, I R 100/98, BFH-PR 2001, 210).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 14.10.2004, VI R 46/99