Leitsatz
1. Setzt die Pos. 9406 KN zwingend voraus, dass ein vorgefertigtes Gebäude einen Raum zu allen Seiten vollständig umschließen muss?
2. Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird: Setzt die Pos. 9406 KN voraus, dass das vorgefertigte Gebäude groß genug ist, um einem durchschnittlich großen Menschen das Betreten zu ermöglichen, und ist hierfür mindestens ein betretbarer Bereich in Stehhöhe für einen solchen Menschen erforderlich oder genügt auch eine Betretbarkeit in gebeugter Körperhaltung?
Normenkette
Pos. 9406, Pos. 3926, Anm. 4 zu Kap. 94 KN
Sachverhalt
Die Klägerin führt sog. Kälberhütten oder Kälberiglus ein und vertreibt diese.
Die aus einem Gehäuse (Wände und Dach) und – modellabhängig – zum Teil auch einem Fußbodenelement bestehenden Waren sind mit Einstreu- und Belüftungsöffnungen sowie an der Vorderseite mit einer Eintrittsöffnung ohne Tür versehen. Für einige Modelle sind Türen erhältlich. Lediglich die größte Hütte (eine "Gruppenhütte") wird ohne Bodenelement eingeführt und anschließend um einen Boden aus Massivholz ergänzt. Das kleinste streitgegenständliche Modell besitzt eine Länge von 147 cm, eine Breite von 109 cm und eine Höhe von 117 cm. Die Gruppenhütte hat die Maße 220 cm × 273 cm × 183 cm. Die Kälberhütten werden üblicherweise außerhalb von Ställen aufgestellt und dienen den Tieren als Witterungsschutz.
Die Klägerin begehrte eine Einreihung in die damalige Unterpos. 9406 0080 der KN als "vorgefertigte Gebäude" bestehend "aus anderen Stoffen". Dagegen reihte das HZA die Waren abweichend als "andere Waren aus Kunststoffen, andere als von den Unterpositionen (KN) 3926 1000 bis 3926 9092 erfasst", in die Unterpos. 3926 9097 KN ein.
Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das FG urteilte, einer Einreihung als "vorgefertigte Gebäude" stehe bereits entgegen, dass die Kälberhütten an der Vorderseite über eine Eintrittsöffnung für das Kalb verfügten, die nahezu die gesamte Frontseite umfasse. Da die Eintrittsöffnung nicht durch eine Tür oder Ähnliches verschlossen oder abgedeckt sei, fehle es an der Bildung eines umschlossenen Raumes (FG Hamburg, Urteil vom 18.6.2019, 4 K 236/16, Haufe-Index 13391954).
Entscheidung
Der BFH hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH angerufen.
Hinweis
Im Streitfall geht es um eine Tarifierung. Die Einreihung hat regelmäßig Auswirkungen auf die Höhe der Zollsätze. Zolltarifliche Entscheidungen haben selten Bedeutung über den Einzelfall hinaus, die vorliegende Entscheidung dreht sich jedoch – vereinfacht ausgedrückt – um die grundlegende Frage, was ein Gebäude ist.
Der BFH war sich der richtigen tariflichen Einordnung nicht sicher und musste deshalb gemäß Art. 267 AEUV den EuGH befragen.
1. Die erste Vorlagefrage zielt darauf ab, ob ein vorgefertigtes Gebäude i.S.d. Pos. 9406 KN einen Raum zu allen Seiten hin vollständig umschließen muss. Der Wortlaut der Pos. 9406 KN auf der einen und die Anm. 4 zu Kap. 94 KN auf der anderen Seite lassen sich diesbezüglich unterschiedlich interpretieren.
Einerseits enthalten weder der Wortlaut des Verordnungstextes noch die dazu gegebenen Anmerkungen ein solches Tatbestandsmerkmal. Ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal als maßgebliches Abgrenzungskriterium für die zolltarifliche Einreihung von Waren heranzuziehen, widerspricht jedoch der EuGH-Rechtsprechung, wonach die Einreihung einer Ware im Interesse der Rechtssicherheit zuvorderst anhand der im Wortlaut der Positionen der KN und den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln verankerten objektiven Merkmale und Eigenschaften vorzunehmen ist. Auch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch erfordern Gebäude eine Überdeckung, jedoch nicht zwingend Wände auf allen Seiten. Zwar bilden die in Anm. 4 zu Kap. 94 KN genannten Gebäudebeispiele (Wohngebäude, Baustellenunterkünfte, Bürogebäude, Schulen, Kaufhäuser, Schuppen, Garagen) ganz überwiegend allseitig umschlossene Räume, jedoch verfügen Schuppen, die den Kälberhütten durchaus ähnlich seien, mitunter auch über eine oder mehrere vollständig offene Seiten.
Andererseits bilden die in Anm. 4 zu Kap. 94 KN aufgelisteten Gebäudebeispiele (Wohngebäude, Baustellenunterkünfte, Bürogebäude, Schulen, Kaufhäuser, Schuppen, Garagen) in aller Regel allseitig umschlossene Räume und eben nur diese oder diesen "ähnliche" – und damit nicht sämtliche – Gebäude gehören in den Anwendungsbereich der Pos. 9406 KN.
2. Die zweite Vorlagefrage zielt auf eine Klärung ab, ob ein vorgefertigtes Gebäude i.S.d. Pos. 9406 KN hoch genug sein muss, um einem durchschnittlich großen Menschen das Betreten zu ermöglichen, und ob dann hierfür mindestens ein Raum in Stehhöhe für einen durchschnittlich großen Menschen vorhanden sein muss oder ob auch eine Betretbarkeit in gebeugter Körperhaltung ausreichend ist.
Diese Frage ist durchaus entscheidungserheblich. Denn die streitgegenständlichen Kälberhütten verfügen zwar nicht über Stehhöhe für einen durchschnittlich großen Menschen, in gebeugter Körperhaltung sind indes selbst die kleinsten für durchschnittlich große Menschen betretba...