Prof. Dr. Heinz-Jürgen Pezzer
Leitsatz
Dem Großen Senat des BFH wird folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Ist im Fall einer zulässigen Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten, die gegen zwingende Zustellungsvorschriften verstößt, weil der Zusteller entgegen § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat, das zuzustellende Schriftstück i.S.v. § 189 ZPO bereits in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich zugegangen und gilt deshalb als zugestellt, in dem nach dem gewöhnlichen Geschehensablauf mit einer Entnahme des Schriftstücks aus dem Briefkasten und der Kenntnisnahme gerechnet werden kann, auch wenn der Empfänger das Schriftstück erst später in die Hand bekommt?
Normenkette
§ 189 ZPO, §§ 11, 53 Abs. 2, 56, 120, 155 FGO, § 130 BGB, §§ 85 Abs. 2, 166, 176, 177, 178, 180 ZPO, § 9 VwZG a.F.
Sachverhalt
Das klageabweisende FG-Urteil (FG München, Urteil vom 16.12.2008, 10 K 4614/05, Haufe-Index 2118886, EFG 2009, 554) ist dem Prozessvertreter der Kläger durch Zustellungsurkunde zugestellt worden. Auf der Zustellungsurkunde ist als Tag der Zustellung Mittwoch, der 24.12.2008, nicht aber die Uhrzeit der Zustellung vermerkt.
Die Revision der Kläger ging beim BFH am Dienstag, dem 27.1.2009 ein. Nachdem die Geschäftsstelle des Senats auf den verspäteten Eingang der Revision hingewiesen hatte, haben die Kläger der Annahme einer Fristversäumnis widersprochen und zugleich (hilfsweise) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung trugen sie vor, das Urteil sei ihrem Prozessbevollmächtigten erst am 29.12.2008 zugegangen. Die Kanzlei sei vom 24. bis 28.12.2008 nicht besetzt gewesen. Die Fachangestellte B des Prozessbevollmächtigten habe die Sendung erst am 29.12.2008 im Kanzleibriefkasten vorgefunden. Auf dem Briefumschlag, in dem sich das Urteil befunden habe, fehle die Angabe des Tags der Zustellung. Für den Fristbeginn komme es auf den Tag an, an dem ihr Prozessbevollmächtigter das zuzustellende Urteil in die Hand bekommen habe. Dies sei der 29.12.2008 gewesen. Danach sei die Revision rechtzeitig eingelegt worden.
Entscheidung
Der vorlegende Senat hat dem Großen Senat des BFH die im Leitsatz wiedergegebene Frage gestellt.
Der vorlegende Senat bejaht diese Frage. Zwar habe das Datum auf dem Umschlag der zuzustellenden Sendung vorschriftswidrig gefehlt. Der Senat bewerte die objektiv-rechtlichen Zwecke der Zustellungsvorschriften jedoch höher als den Schutz des Adressaten.
Die Vorlagefrage sei entscheidungserheblich, weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme das zuzustellende FG-Urteil tatsächlich am Vormittag des 24.12.2008 in den Briefkasten des Bevollmächtigten der Kläger eingeworfen worden sei und nach Auffassung des vorlegenden Senats am 24.12. zumindest bis zum Mittag mit einer Kenntnisnahme von Geschäftspost gerechnet werden könne.
Dies hätte die Verfristung der Revision zur Folge. Die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht erfüllt.
Hinweis
1. Zustellung bedeutet im Normalfall: In einer Zustellungsurkunde wird die Übergabe eines Schriftstücks an den Empfänger dokumentiert. Ihre Bedeutung im Steuerrecht liegt darin, dass mit der Zustellung Rechtsmittelfristen in Lauf gesetzt werden.
2. Wird der Empfänger nicht angetroffen, greift der Zusteller zur Ersatzzustellung.
a) Diese geschieht u.a. durch Einlegen des zuzustellenden Schriftstücks in den Briefkasten (§ 180 ZPO). In diesem Fall gilt das Schriftstück mit der Einlegung als zugestellt (§ 180 Satz 2 ZPO). Der Zusteller vermerkt auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung (§ 180 Satz 3 ZPO) und hat dies ebenfalls in der Zustellungsurkunde gesondert zu beurkunden (§ 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO).
b) Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gem. gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist (§ 189 ZPO).
3. Vergisst der Zusteller, das Datum auf dem Umschlag einzutragen, so verstößt er gegen § 180 Satz 3 ZPO und damit eine zwingende Zustellungsvorschrift. Dann kommt es für die Zustellungsfiktion des § 189 ZPO darauf an, wann das Dokument "tatsächlich zugegangen" ist.
4. Für den "tatsächlichen Zugang" i.S.d. § 189 ZPO kommen verschiedene Zeitpunkte in Betracht:
a) Man kann die Vorschrift so verstehen, dass das Tatbestandsmerkmal "tatsächlicher" Zugang nur erfüllt ist, wenn der Empfänger die tatsächliche, d.h. physische, Verfügungsmacht über das Schriftstück erlangt hat. In der Rechtsprechung des BGH und des BFH sowie im Schrifttum findet sich dazu die Formulierung: Tatsächlicher Zugang i.S.d. § 189 ZPO bedeutet, dass der Empfänger das Schriftstück "in die Hand bekommt". Nach dieser Auffassung gilt das Schriftstück nicht nach § 189 ZPO als zugestellt, wenn es nur im Briefkasten liegt, der Empfänger es aber noch nich...