Die Einführung variabler Kosten war in den 1950er-Jahren die große Weiterentwicklung der Betriebswirtschaft. Sie boten erstmals eine Alternative zu Vollkosten und Umlagen. Wie wichtig diese grundlegende Trennung der Kosten ist, erkennt man daran, dass moderne Instrumente wie die Prozesskostenrechnung ebenfalls eine Unterscheidung der Kosten danach vornehmen, ob sie mengenabhängig sind oder nicht. Grenzkosten sind deshalb so bedeutsam, weil nur durch sie die unterjährige Maximierung des Gewinns vor Steuern möglich ist. Damit sind sie methodisch jeder Rechnung auf Basis der Herstellungskosten überlegen, weil diese (gemäß Definition) anteilig umgelegte Strukturkosten enthalten.
Der Begriff ›variabel‹ führt jedoch häufig zur Verwirrung, weil er im Alltag i. d. R. mit ›beeinflussbar‹ gleichgesetzt wird. In der Betriebswirtschaft ist dies jedoch lediglich eine Nebenbedeutung. Sie führt für fast alle Fragestellungen in der betrieblichen Praxis zu Fehlentscheidungen. Auch im Rahmen dieses Buchs spielt sie keine Rolle. Variable Kosten werden in diesem Text ausschließlich im Sinne der Hauptbedeutung, nämlich ›Kosten einer zusätzlichen Einheit‹, d. h. einer zusätzlichen leistungserbringenden Einheit, verwendet. Synonyme Begriffe sind proportionale Kosten, Grenzkosten, Produktkosten (›Proko‹). Nicht zulässig ist dagegen die Gleichsetzung mit dem Begriff Einzelkosten. Dieser Begriff stellt darauf ab, ob die Kosten eindeutig zurechenbar sind (oder nicht = Gemeinkosten). Für Leser, die nicht aus dem Controllerbereich kommen, sei ein Blick in das Wiki des Internationalen Controller Vereins (ICV) empfohlen.
17.2.1 Verrechnung lediglich der Produktkosten (Proko)
Sofern keine Engpässe vorliegen, ist die optimale Verkaufsmenge dann gegeben, wenn die Grenzkosten den Grenzerlösen entsprechen. Das maximiert die Differenz aus Gesamterlösen und Gesamtkosten. Diese betriebswirtschaftliche Regel, die allgemein auf jede Anbieter-Kunden-Beziehung zutrifft, lässt sich auch auf die Beziehungen innerhalb eines Unternehmens anwenden. Das Servicecenter wird bereit sein, solange zu liefern, wie ihre Erlöse je Einheit größer als die Kosten sind. Beim Kunden ist es genau umgekehrt. Sein Nutzen bestimmt die Preisbereitschaft. Mit steigenden Kosten sinkt sein Vorteil aus dem Bezug der Leistung. Deshalb ist das Optimum exakt bei den ›Grenzkosten = Grenzerlösen‹ erreicht. Wegen seiner Wichtigkeit soll es betont werden: Es sind ausdrücklich die ›Kosten einer zusätzlichen Einheit‹ gemeint. Ein anderer in der Praxis gebräuchlicher Begriff lautet ›proportionale Kosten‹. Diese sind nicht mit ›beeinflussbaren‹ Kosten zu verwechseln. Insofern ist der Begriff der ›variablen‹ Kosten missverständlich und wird in diesem Buch bewusst vermieden. Der Leser aus dem Steuerbereich, dem diese Unterscheidung möglicherweise fremd ist, möge sich für die Ermittlung der Grenzkosten an den Controllerservice wenden, wo diese Thematik Standardwissen sein sollte.
Die Kostenentwicklung in Abhängigkeit von der Leistungsmenge ist meist nicht linear. Ohne die Kenntnis der Ausbringungsmenge, der Art der Leistungserstellung (z. B. Häufigkeit und zeitliche Verteilung der Leistung) usw. können die Grenzkosten nicht bestimmt werden. Diese Aussage gilt in besonderer Weise für eine Konzernzentrale fern der operativen Prozesse. Sie kann die Richtigkeit der Plandaten nur schwer beurteilen. Daraus ergibt sich ein Anreizproblem beim Servicecenter. Durch den ›Verrechnungspreis Grenzkosten‹ entsteht auf der leistenden Kostenstelle zwangsläufig eine Kostenunterdeckung in Höhe der Strukturkosten.
Der Zielmaßstab für den Servicecenter-Leiter lautet folgerichtig: Einhaltung einer Kostenunterdeckung in Höhe der fixen Kosten. Das ist sachlich sinnvoll, aber von vielen Managern nicht gewünscht. Insbesondere die Leiter eines solchen Centers tun sich schwer damit, dass eine Unterdeckung von z. B. 100.000 EUR (vereinfacht angenommen: wie geplant) eine gute Leistung darstellt. Einen vermeintlichen ›Profit‹ gemacht zu haben, z. B. in Form eines Quasi-DBs, klingt vermutlich nicht nur besser, sondern lässt sich auch in Bonusgesprächen leichter kommunizieren.
Da der interne Kunde die Leistung zu Teilkosten verrechnet bekommt, er also günstige Einkaufspreise erhält, hat er eine hohe Flexibilität gegenüber seinen Kunden. Es gibt aber auch Nachteile. Die Gesamtnachfrage nach Leistungen wird tendenziell höher ausfallen als bei den übrigen Verrechnungspreis-Varianten. Grenzkosten sind der geringstmögliche Preis und auf ›Sonderangebote‹ reagieren die meisten Menschen bekanntlich mit einem Kaufimpuls....