Leitsatz
1. Teilt der Sachbearbeiter nach Aufgabe des Steuerbescheids zur Post, aber vor dessen Zugang, den Empfangsbevollmächtigten telefonisch mit, der Bescheid sei falsch und solle deshalb nicht bekannt gegeben werden, wird der Bescheid trotz des späteren Zugangs nicht wirksam.
2. Nimmt ein nicht zur Entgegennahme von Willenserklärungen ermächtigter Mitarbeiter der Empfangsbevollmächtigten die Mitteilung entgegen, ist diese den Empfangsbevollmächtigten zu dem Zeitpunkt zugegangen, zu dem unter regelmäßigen Umständen damit zu rechnen ist, dass der Mitarbeiter als Empfangsbote die Mitteilung weiterleitet.
Normenkette
§ 122, § 124 AO, § 130 Abs. 1 S. 1 BGB
Sachverhalt
Das FA setzte am 06.10. Aussetzungszinsen fest und adressierte den Bescheid an die Empfangsbevollmächtigten der Kläger. Der Bescheid ging am Vormittag des 06.10. zur Post. Der Sachbearbeiter bemerkte nun, dass er von einem falschen Zinsbeginn ausgegangen war. Noch am späten Vormittag des 06.10. rief er deshalb in der Kanzlei an und sagte einem Mitarbeiter, der soeben versandte Zinsbescheid sei falsch und solle nicht bekannt gegeben werden; es komme ein neuer Bescheid.
Am 17.10. setzte das FA höhere Zinsen fest. Das FG (Niedersächsisches FG, Urteil vom 19.09.2006, 13 K 40/06, Haufe-Index 1644170, EFG 2007, 78) gab der Klage statt und hob den Bescheid vom 17.10. auf. Der Bescheid vom 06.10. sei wirksam bekannt gegeben und nicht schriftlich widerrufen worden.
Entscheidung
Der BFH widersprach und wies die Klage ab. Der Widerruf war rechtzeitig und wirksam. Aus dem auch im öffentlichen Recht heranzuziehenden § 130 Abs. 1 S. 1 BGB ergibt sich nicht, dass eine schriftliche Willenserklärung nur schriftlich widerrufen werden kann.
Hinweis
1. Steuerbescheide müssen wirksam bekannt gegeben werden (§ 124 Abs. 1 AO). Das erfordert den Bekanntgabewillen des zeichnungsberechtigten Beamten, der den Bescheid regelmäßig abzeichnet und seine Ausfertigung der Poststelle des FA zuleitet.
2. Der Bescheid wird nicht wirksam, wenn der Bekanntgabewille vor seiner Absendung aufgegeben wird. Es genügt, wenn dies in den Akten eindeutig dokumentiert wird. Hat der Bescheid aber den Herrschaftsbereich der Behörde bereits verlassen, dann ist die Aufgabe des Bekanntgabewillens unbeachtlich.
3. Unabhängig vom Zeitpunkt der Aufgabe des Bekanntgabewillens wird ein Bescheid auch nicht wirksam, wenn die Behörde dem Empfänger vor oder mit dem Zugang des Bescheids mitteilt, er solle nicht gelten. Da Verwaltungsakte empfangsbedürftige Willenserklärungen sind, werden sie entsprechend § 130 Abs. 1 S. 2 BGB nur dann mit dem Zugang beim Empfänger wirksam, wenn diesem nicht vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht. Bis zur Bekanntgabe können Verwaltungsakte frei widerrufen oder aufgehoben werden, ohne dass die Voraussetzungen der § 130, § 131 AO vorliegen müssen. Der Widerruf eines schriftlichen Bescheids bedarf nicht der Schriftform, eine mündliche Mitteilung reicht aus. Zweifel am Widerruf und seiner Rechtzeitigkeit gehen zulasten des FA.
4. Wird der telefonische Widerruf nicht gegenüber dem Steuerpflichtigen oder seinem Bevollmächtigten erklärt, sondern dessen Mitarbeiter, so ist dieser Empfangsbote. Der Widerruf geht in diesem Fall in dem Zeitpunkt zu, zu dem unter regelmäßigen Umständen mit der Weiterleitung zu rechnen ist.
5. Nicht entschieden wurde, ob der Widerruf vor dem tatsächlichen Zugang des Bescheids zugehen muss oder ob es ausreicht, wenn dies vor dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post geschieht (Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO). Ersteres dürfte richtig sein – wenn der Bescheid tatsächlich zugegangen ist, kommt der Widerruf zu spät.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 28.05.2009 – III R 84/06