Leitsatz
Der I. Senat hält an seiner Auffassung fest, dass der Erbe einen vom Erblasser nicht ausgenutzten Verlustabzug gem. § 10d EStG bei seiner eigenen Veranlagung zur Einkommensteuer bzw. Körperschaftsteuer geltend machen kann (Senatsurteil vom 16.5.2001, I R 76/99, BFH-PR 2001, 331, BStBl II 2002, 487). Er stimmt der Divergenzanfrage des XI. Senats im Beschluss vom 10.4.2003, XI R 54/99 (BFH-PR 2003, 404, BFH/NV 2003, 1364) deshalb nicht zu.
Normenkette
§ 10d EStG
Sachverhalt
Der Sachverhalt wird vom I. Senat nicht mehr mitgeteilt. Er ergibt sich aus dem Anfragebeschluss des XI. Senats vom 10.4.2003, XI R 54/99. Einzelheiten finden Sie dazu in BFH-PR 2003, 404.
Entscheidung
Die Entscheidung des BFH wird aus dem Leitsatz deutlich. Letztlich bezieht der I. Senat des BFH sich auf sein Urteil vom 16.5.2001, I R 76/99 (BFH-PR 2001, 331) und betont abermals die Gesichtspunkte der Rechtskontinuität, die für die Beibehaltung der bisherigen Praxis sprächen.
Er reichert diese Erwägungen allerdings (erstmals) um etliche neue Aspekte an. So hebt er die wirtschaftliche Bedeutung von Verlustvorträgen als "latente Erstattungsansprüche" hervor. Dieser ökonomische Wert schlage sich in einer Schmälerung des Nachlasses nieder, was es rechtfertige, ihm auch steuerlich Rechnung zu tragen.
Bezogen auf einen Totalgewinn ("Totalitätsprinzip") sei die Einbeziehung von Verlustvorträgen jedenfalls beim Erblasser sogar verfassungsrechtlich (aus Gründen des Eigentumsschutzes) geboten. Die Vererbbarkeit der Verluste sei bei gegenwärtiger Gesetzeslage geeignet, dieses Prinzip und damit zugleich das Leistungsfähigkeitsprinzip zu verwirklichen.
Schließlich gebe es genügend Beispiele aus dem positiven Steuerrecht, in denen dieses ebenfalls von entsprechenden "Vererbbarkeiten" ausgehe. Das erhelle ein "übergreifendes Steuerprinzip", so in § 6b EStG für die Anrechnung der Besitzzeiten des Erblassers bei der Bildung von Reinvestitionsrücklagen, in § 2 InvZulG für die Anrechnung der Verbleibensdauer des begünstigten WG im BV, in § 19 UStG für den Verzicht des Erblassers auf die Regelbesteuerung im Jahr des Erbfalls und auch in § 23 Abs. 1 Satz 3 EStG bezogen auf den verstrichenen Zeitraum vor dem Erbfall bei der Berechnung der sog. Spekulationsfrist.
Hinweis
1. Zu diesem Beschluss ist der interessierten Öffentlichkeit in erster Linie das Ergebnis, weniger die Begründung mitzuteilen: Der XI. Senat des BFH beabsichtigt, die Vererblichkeit von Verlustabzügen zu "streichen". Er hat deshalb – durch Beschluss vom 10.4.2003, XI R 54/99 (BFH-PR 2003, 404) – beim I. und beim VIII. Senat angefragt, ob beide dem zustimmen. Dessen bedurfte es (nach den gesetzlichen Vorgaben des § 11 Abs. 3 FGO), weil in den beiden Urteilen dieser Senate vom 16.5.2001, I R 76/99 (BFH-PR 2001, 331, BStBl II 2002, 487) und vom 25.4.1974, VIII R 61/69 (NV) Gegenteiliges judiziert worden ist. Mit dieser Anfrage war in gewisser Weise seit längerem zu rechnen (vgl. Praxis-Hinweise in BFH-PR 2001, 331).
Der I. Senat hat nun entschieden, dass er an seiner Rechtsprechung festhalten will, gleichermaßen wie übrigens – vielleicht etwas überraschend, siehe insoweit die Fehl-Prophezeiung von Hutter in BFH-PR 2003, 404 – der VIII. Senat im Beschluss vom 14.10.2003, VIII ER -S- 2/03 (NV). Damit muss der XI. Senat sich nun entscheiden, ob er den (besseren?) Argumenten dieser Senate folgen oder aber, ob er bei seiner Ansicht beharren und deswegen den Großen Senat anrufen will. Das wird abzuwarten sein.
2. Für die Praxis ist zunächst zu beachten, dass die Finanzverwaltung bisher noch nicht auf die internen Wirrungen des BFH reagiert hat und nach wie vor die Vererblichkeit der Verlustabzüge zulässt. Vermutlich wird es dabei auch bleiben, bis ein gegenteiliges Verdikt des BFH vorliegt. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass künftige Veranlagungen demnächst nur noch vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergehen werden. Eine Verschärfung der Rechtsanwendung steht jedenfalls im Raum, in diesem Fall ausgelöst nicht durch das BMF (oder den Gesetzgeber), sondern durch die Rechtsprechung. (Folgt man dem I. Senat des BFH, dann dürfte der Ausschluss der Vererblichkeit allerdings unmittelbar in der Verfassungswidrigkeit des § 10d EStG münden; siehe dazu die nachfolgend wiedergegebenen Entscheidungsgründe im Einzelnen.)
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 22.10.2003, I ER -S- 1/03 (XI R 54/99)