Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
Bei der Prüfung, ob ein volljähriges behindertes Kind, das im Haushalt seines Vaters lebt, imstande ist, sich selbst zu unterhalten, gehört die dem Kind gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt zu seinen anrechenbaren Bezügen i.S.d. § 32 Abs. 4 EStG, es sei denn, der Sozialleistungsträger kann für seine Leistungen bei dem Vater Regress nehmen.
Normenkette
§ 3 Nr. 11 EStG , § 31 Satz 2 EStG , § 32 Abs. 4 EStG , § 74 Abs. 5 EStG , § 2 BSHG , § 11 BSHG , § 16 BSHG , § 76 Abs. 2 BSHG
Sachverhalt
Die Klägerin gewährte dem behinderten P Sozialhilfe. Die Klägerin sah wegen des geringen Einkommens des Vaters davon ab, diesen in Regress zu nehmen.
Im Juni 1998 beantragte der Vater Kindergeld für seinen Sohn P. Der Beklagte lehnte den Antrag mit dem Hinweis ab, dass P sich aufgrund der Sozialhilfeleistungen selbst unterhalten könne. Der Einspruch der Klägerin, die die Kindergeldansprüche des Vaters auf sich übergeleitet hatte, blieb ohne Erfolg.
Das FG gab der Klage statt; die Sozialhilfeleistungen seien kein Bezug i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (EFG 2002, 991).
Entscheidung
Der BFH hob das Urteil auf und wies die Klage ab. Ein behindertes Kind könne sich selbst unterhalten, wenn es über hinreichende eigene Einkünfte und Bezüge i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verfüge. Zu diesen Bezügen gehörten grundsätzlich auch die Sozialhilfeleistungen, weil der Vater nicht in Regress genommen worden sei.
Allerdings ergäben sich die oben dargestellten Wechselwirkungen zwischen Kindergeld und Sozialhilferecht, die auf der Grundlage eines unterstellten Kindergeldanspruchs bei der Ermittlung des Sozialhilfeanspruchs auszugleichen seien. Mit dem jeweils unterstellten Kindergeldanspruch der Eltern werde berücksichtigt, dass nach § 2 Abs. 1 BSHG Sozialhilfe nicht erhalte, wer sich selbst helfen könne und wer die erforderliche Hilfe von anderen, insbesondere von Angehörigen oder Trägern anderer Sozialleistungen erhalte. Denn das im Haushalt der Eltern lebende volljährige Kind beziehe in dem Umfang keine Hilfe zum Lebensunterhalt, wie die Eltern unter Berücksichtigung des Kindergeldanspruchs Unterhaltsleistungen erbringen könnten.
Hinweis
Das Urteil ist zu § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ergangen, der die Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs für behinderte Kinder regelt; die Bedeutung des Urteils reicht jedoch weit über den entschiedenen Fall hinaus. Denn es entspricht der inzwischen gesicherten Rechtsprechung des BFH, dass ein behindertes Kind i.S. dieser Bestimmung "außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten", wenn es nicht über ausreichende eigene "Einkünfte und Bezüge" i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verfügt. Ich verweise hinsichtlich des Verhältnisses dieser Regelungen zueinander auf meine Anmerkung in BFH/PR 2003, 53.
Damit gewinnen die Ausführungen des Urteils zu der Frage, ob Sozialhilfeleistungen "Bezüge" sind, für das Kindergeldrecht allgemeine Bedeutung. Der BFH hat die Frage grundsätzlich bejaht; unberücksichtigt bleiben die Sozialhilfeleistungen nur, wenn der Sozialleistungsträger die Eltern in Regress nimmt. Mit dieser Entscheidung geriet der BFH aber in nicht leicht zu meisternde Abgrenzungsprobleme. War er schon in seinem Urteil vom 14.5.2002, VIII R 88/01 (BFH/NV 2002, 1156) davon ausgegangen, dass die Sozialhilfe gegenüber dem Kindergeldanspruch nachrangig sei, so musste er nunmehr klären, was man unter diesem Grundsatz der Nachrangigkeit zu verstehen hat.
Erstes Ergebnis dieser Prüfung war, dass dieser Grundsatz es nicht gebietet, die Sozialhilfeleistung als Bezug des Kindes unberücksichtigt zu lassen; der Anspruch (der Eltern) auf das Kindergeld mindert nicht den Anspruch (des Kindes) auf Sozialhilfe. Der Grundsatz der Nachrangigkeit wirkt sich anders aus:
Lebt das Kind im Haushalt seiner Eltern, geht das Sozialhilferecht von der Vermutung aus, dass es von den Eltern Leistungen zum Unterhalt erhält, soweit dies nach ihrem Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. Zu diesem "Einkommen" gehört aber auch der Anspruch auf Kindergeld, der wiederum davon abhängig ist, ob dem Kind Sozialhilfe gewährt wird. Diese Wechselwirkung ist unter Beachtung des Grundsatzes der Nachrangigkeit der Sozialhilfe in der Weise zu lösen, dass
- zunächst in einem ersten Schritt zu unterstellen ist, dass die Eltern einen Anspruch auf Kindergeld haben, und dann
- auf dieser Grundlage in einem zweiten Schritt zu prüfen ist, ob und ggf. inwieweit die Eltern das Kind unterhalten könnten (kein Anspruch auf Sozialhilfe, also auch kein Bezug) oder nicht unterhalten könnten (Anspruch auf Sozialhilfe, also auch ein Bezug).
Das Urteil legt die Folgen dieser Wechselwirkung anhand der verschiedenen, hier in Betracht kommenden Alternativen dar.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 26.11.2003, VIII R 32/02