Leitsatz
1. Negative Einkünfte sind, soweit sie nach § 10d Abs. 1 EStG zurückgetragen worden sind, zeitlich nicht mehr dem Entstehungsjahr zuzuordnen und bilden demzufolge auch nicht (mehr) die Grundlage für die Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr.
2. Der negative Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr (§ 2 Abs. 3 EStG) ist nach Durchführung des Verlustrücktrags um den Betrag der zurückgetragenen Einkünfte zu erhöhen. Der durch den Verlustabzug modifizierte Gesamtbetrag der Einkünfte bildet die Ausgangsgröße für die weitere Ermittlung des Einkommens gemäß § 2 Abs. 4 EStG.
Normenkette
§ 2, § 10d Abs. 1, § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG
Sachverhalt
Der Gesamtbetrag der Einkünfte der Klägerin war im Streitjahr negativ. Aus KiSt-Erstattungen in erheblicher Höhe ergab sich zugleich ein Hinzurechnungsbetrag (Erstattungsüberhang). Das FA trug die negativen Einkünfte in voller Höhe zurück und rechnete den Betrag der zurückgetragenen Einkünfte dem Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr wieder hinzu (GdE im Entstehungsjahr nach Durchführung des Verlustrücktrags: 0 EUR) mit der Folge, dass der Hinzurechnungsbetrag zu einer Steuerfestsetzung führte.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren hat das FG der Klage in vollem Umfang entsprochen. § 10d Abs. 1 EStG regele nicht, welche Auswirkungen der Verlustrücktrag auf die Einkommensermittlung im Entstehungsjahr habe. Im Übrigen habe der BFH selbst ausgeführt, dass ein Hinzurechnungsbetrag durch einen hohen negativen Gesamtbetrag der Einkünfte ausgeglichen werden könne. Dieser Fall könne aber nur eintreten, wenn die (zurückgetragenen) negativen Einkünfte auch im Entstehungsjahr zu berücksichtigen seien (FG München, Urteil vom 22.9.2020, 12 K 1937/19, Haufe-Index 14207657).
Entscheidung
Auf die Revision des FA, der das BMF beigetreten war, hat der BFH das FG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Hinweis
Das Besprechungsurteil betrifft einen eher selten vorkommenden Sachverhalt, es klärt aber geradezu elementare Grundfragen des Verlustabzugs, die sich in der Regel nicht stellen und deshalb bisher auch nicht entschieden waren. Insofern dürfte es vor allem von hohem theoretischen Interesse sein.
1. Negative Einkünfte, die im Entstehungsjahr nicht ausgeglichen werden, können zurückgetragen werden und mindern dann einen positiven Gesamtbetrag der Einkünfte im Rücktragsjahr (Verlustrücktrag).
2. Welche Auswirkungen der Verlustrücktrag im Entstehungsjahr hat, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Streitig war, ob der Verlustrücktrag bewirkt, dass die negativen Einkünfte im Entstehungsjahr nicht mehr zur Verfügung stehen, wodurch sich der Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr gegebenenfalls bis auf 0 EUR erhöht.
a) Die Frage stellt sich in den allermeisten Fällen nicht. Denn für die Steuerfestsetzung im Entstehungsjahr ist es in der Regel unerheblich, ob der Gesamtbetrag der Einkünfte 0 EUR beträgt oder negativ ist.
b) Anders ist dies, wenn bei der Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr ein Hinzurechnungsbetrag nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG (hier: KiSt-Erstattungsüberhang) zu berücksichtigen ist. Am Verlustausgleich (§ 2 Abs. 3 EStG) nimmt er nicht teil, da er nicht zu den Einkünften gehört, erhöht aber gleichwohl (wie negative Sonderausgaben) das zu versteuernde Einkommen (BFH, Urteil vom 12.3.2019, IX R 34/17, BFH/NV 2019, 942,BFH-PR 2019, 249, BStBl II 2019, 658) und könnte gegebenenfalls mit einem negativen Gesamtbetrag der Einkünfte (§ 2 Abs. 4 EStG) ausgeglichen werden.
3. Das Besprechungsurteil hat dies jetzt ausgeschlossen. Tragender Grund ist die elementare Annahme, dass jede Besteuerungsgrundlage nur einem bestimmten Besteuerungszeitraum zugeordnet sein kann. Das ist die Grundvoraussetzung für eine leistungsgerechte Besteuerung.
a) Negative Einkünfte, die zurückgetragen sind, werden zeitlich dem Rücktragsjahr zugeordnet. Damit wird ihre ursprüngliche zeitliche Zuordnung (zum Entstehungsjahr) überschrieben und unwirksam. Sie können folglich im Entstehungsjahr nicht mehr berücksichtigt werden (vgl. Leitsatz 1).
b) Für die Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr ergibt sich daraus, dass der negative Gesamtbetrag der Einkünfte (§ 2 Abs. 3 EStG) nach Verlustrücktrag um den Betrag der zurückgetragenen negativen Einkünfte zu erhöhen ist. Der Gesamtbetrag der Einkünfte nach Verlustrücktrag bildet dann die Ausgangsgröße (§ 2 Abs. 4 EStG) für die weitere Ermittlung des zu versteuernden Einkommens im Entstehungsjahr.
c) Zwar unterscheidet das Gesetz in § 2 Abs. 3 und 4 EStG begrifflich nicht zwischen dem negativen Gesamtbetrag vor und nach Verlustrücktrag. Dies ist jedoch erforderlich, da der Verlustrücktrag im Schema des § 2 EStG zwischen Abs. 3 und Abs. 4 zu verorten wäre ("vor Sonderausgaben", vgl. Leitsatz 2).
4. In seinem Urteil vom 12.3.2019, IX R 34/17, hat der IX. Senat u.a. ausgeführt, es sei hinzunehmen, dass der Hinzurechnungsbetrag das zu versteuernde Einkommen erhöhe, obwohl sich die KiSt-Zahlungen im jeweiligen Abflussjahr möglicherweise nicht steuerli...