Prof. Dr. Bernd Heuermann
Leitsatz
Im Rahmen des Rücktrags eines 1999 erzielten Verlustes in den VZ 1998 ist § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 nicht anzuwenden (entgegen R 115 Abs. 6 EStR 1999).
Normenkette
§ 2 Abs. 3, § 10d, § 52 Abs. 1, Abs. 25 EStG 1999
Sachverhalt
Die Kläger – zusammen veranlagte Ehegatten – hatten 1999 Verluste erzielt, die nach § 10d Abs. 1 S. 1 i.V.m. S. 5 EStG in das Vorjahr zurückzutragen waren. Das FA hatte die aus 1999 stammenden Verluste nur zum Teil mit positiven Einkünften der Kläger aus dem Jahr 1998 verrechnet, da es die Auffassung vertrat, die Höhe der 1998 zu berücksichtigenden Verluste sei unter entsprechender – und damit rückwirkender – Anwendung von § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG zu ermitteln.
Hiergegen wandten sich die Kläger, die einen Verlustrücktrag in voller Höhe begehrten. Sie erhielten vor dem FG (Hessisches FG, Urteil vom 22.09.2004, 2 K 1686/01, Haufe-Index 1344109) Recht.
Entscheidung
Der BFH bestätigte diese Entscheidung aus den in den Praxis-Hinweisen dargelegten Gründen.
Hinweis
1. Mit der ab 01.01.1999 anzuwendenden und Ende 2003 wieder ersatzlos gestrichenen Regelung in § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG) hatte der Gesetzgeber eine "quellenbezogene Mindestbesteuerung" schaffen wollen. Die sprachlich nahezu unverständliche und verfassungsrechtlich heftig umstrittene Vorschrift hatte in der Fachwelt massive Kritik auf sich gezogen. Vor diesem Hintergrund hat der XI. Senat des BFH mit Beschluss vom 06.09.2006 (BFH, Beschluss vom 06.09.2006, XI R 26/04, BFH/NV 2006, 2351, BFH/PR 2007, 16) eine Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob die Norm wegen Verletzung des Grundsatzes der Normenklarheit (Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 GG) verfassungswidrig ist.
2. Nach Zurückweisung des Vorlagebeschlusses durch das BVerfG hatte der inzwischen zuständige IX. Senat in diesem – wegen des Vorlagebeschlusses des XI. Senats vorübergehend ausgesetzten – Verfahren die Frage zu entscheiden, ob im Rahmen des Rücktrags eines 1999 erzielten Verlustes in den VZ 1998 § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG angewendet werden darf. Die hier besprochene Entscheidung ist der Leitfall mehrerer Rückwirkungsfälle.
3. Der BFH hat die Frage verneint und dem Steuerbürger recht gegeben. Nach § 10d Abs. 1 S. 1 EStG i.d.F. des StEntlG sind negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags nicht ausgeglichen werden, bis zu einem Betrag von 2 Mio. DM vom Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittelbar vorangegangenen VZ vorrangig von Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abzuziehen.
Dieser Grundsatz wurde dahin eingeschränkt, dass die negativen Einkünfte zunächst von den positiven Einkünften derselben Einkunftsart abzuziehen waren, die "nach Anwendung des § 2 Abs. 3 EStG verbleiben". Soweit in diesem VZ "durch einen Ausgleich nach § 2 Abs. 3 S. 3" oder einen Verlustvortrag nach § 10d Abs. 2 S. 3 EStG die dort genannten Beträge nicht ausgeschöpft sind, mindern die nach § 10d Abs. 1 S. 2 EStG i.d.F. des StEntlG verbleibenden negativen Einkünfte die positiven Einkünfte aus anderen Einkunftsarten bis zu einem Betrag von 100 000 DM, darüber hinaus bis zur Hälfte des 100 000 DM übersteigenden Teils der Summe der positiven Einkünfte aus anderen Einkunftsarten.
4. Ist diese (restriktive) Regelung aber schon im Vortragsjahr 1998 anzuwenden? Nein, sie ist erstmals für den VZ 1999 anzuwenden. Eine abweichende, den VZ 1998 umfassende Anwendungsregelung konnte der BFH auch § 52 Abs. 25 S. 1 EStG i.d.F. StEntlG nicht entnehmen, der lediglich 1999 erzielte Verluste erfasst. Die Anwendung von Verlustrücktragsregelungen auf frühere VZ hat der Gesetzgeber bisher stets ausdrücklich geregelt. Deshalb galten die Änderungen in § 10d Abs. 1 EStG durch das StEntlG noch nicht für den Rücktrag von Verlusten in den VZ 1998, sondern nur für den Rücktrag von Verlusten in den VZ 1999.
5. Dies ergibt sich auch daraus, dass über Grund und Höhe des rücktragbaren Verlustes nicht im Entstehungsjahr, also hier nicht im Jahr 1999, sondern in dem Jahr entschieden wird, in dem sich der Verlustrücktrag steuerrechtlich auswirkt. Die "negativen Einkünfte, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen werden" (§ 10d Abs. 1 S. 1 EStG), bilden nur eine Ausgangsgröße (Besteuerungsgrundlagen i.S.d. § 157 Abs. 2 AO) für die Ermittlung des im Jahr 1998 wirksam werdenden Verlustabzugs.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 09.03.2011 – IX R 72/04