Leitsatz
1. Die Übermittlung eines Vollstreckungstitels durch einen um Vollstreckung ersuchenden Mitgliedstaat der Europäischen Union nach den Bestimmungen der RL 76/308/EWG unter Beifügung einer deutschen Übersetzung des Vollstreckungstitels hindert das FG nicht an der Prüfung, ob die Vollstreckung des ausländischen Titels in Deutschland gegen die öffentliche Ordnung (ordre public) verstieße.
2. Das Gericht ist zu einer solchen Prüfung verpflichtet, wenn der in Deutschland ansässige Steuerpflichtige substanziiert besondere Umstände vorgetragen hat, die einen Verstoß gegen den ordre public zumindest möglich erscheinen lassen.
3. Ein solcher Verstoß liegt vor, wenn ein Mitgliedstaat einem in Deutschland ansässigen Abgabenpflichtigen eine in ausländischer Sprache abgefasste Zahlungsaufforderung zustellen lässt, der mangels einer Rechtsbehelfsbelehrung nicht entnommen werden kann, dass die Rechtsbehelfsfrist lediglich 15 Tage beträgt, und eine Art Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entweder im ausländischen Recht nicht vorgesehen oder trotz Geltendmachung von Gründen, welche die Fristversäumnis entschuldigen könnten, nicht geprüft worden ist.
Normenkette
Art. 103 Abs. 1 GG, § 7 Abs. 1 EGBeitrG, Art. 4 Abs. 3, Art. 5, Art. 7 Abs. 2, Art. 12 RL 76/308/EWG, Art. 34 Nr. 1 VO (EG) Nr. 44/2001
Sachverhalt
Die italienische Zollverwaltung bittet das HZA durch ein Beitreibungsersuchen um Vollstreckung einer Forderung aus einer im Oktober einem deutschen Speditionsunternehmen zugestellten Zahlungsaufforderung eines italienischen Zollamts. In dem Beitreibungsersuchen ist ein Urteil eines italienischen Oberlandesgerichts als neuer vollstreckbarer Titel bezeichnet, das in beglaubigter Kopie mit einer Übersetzung ins Deutsche beigefügt war. Das Urteil bestätigt das Urteil eines Gerichts erster Instanz, mit dem die Klage gegen die Zahlungsaufforderung des italienischen ZA aufgrund verspäteter Einlegung des Rechtsbehelfs abgewiesen worden ist.
Das HZA kündigt an, durch Verwertung einer Bürgschaft vollstrecken zu wollen. Dagegen richtet sich die Klage, die das FG abgewiesen hat (FG München, Urteil vom 25.06.2009, 14 K 3563/08, Haufe-Index 2341853, ZfZ 2010, Beilage 3, 33). Es urteilte, die Voraussetzungen für eine Vollstreckung nach dem Gesetz zur Durchführung der EG-Beitreibungs-RL seien erfüllt. Das betroffene Unternehmen hält dem entgegen, die Zahlungsaufforderung sei ohne Begründung und ohne Rechtsmittelbelehrung in italienischer Sprache ergangen. Deshalb habe ein Rechtsbehelf nicht fristgemäß innerhalb von 15 Tagen eingelegt werden können. Der Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt.
Entscheidung
Der BFH hat die Sache an das FG zurückverwiesen, damit dieses prüfe, ob die italienischen Gerichte das Vorliegen von Wiedereinsetzungsgründen, "sollten sie überhaupt geltend gemacht worden sein", geprüft haben.
Hinweis
1. Die Mitgliedstaaten der Union haben sich gegenseitig Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die Bestandteil des Finanzierungssystems des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft sind, sowie von Abschöpfungen und Zöllen zu gewähren (RL 76/308/EWG des Rats vom 15.03.1976, inzwischen RL 2008/55/EG des Rats vom 26.05.2008). Gem. Art. 12 RL 76/308/EWG ist ein Rechtsbehelf gegen die Forderung oder den Vollstreckungstitel in dem Mitgliedstaat einzulegen, in dem die Behörde ihren Sitz hat, welche die Abgabe festsetzt; hingegen sind Rechtsbehelfe gegen Vollstreckungsmaßnahmen ggf. in dem Mitgliedstaat einzulegen, in dem sich die Behörde befindet, die von jener Behörde um eine Vollstreckung der Abgabenforderung ersucht wird. So kam es hier zu einem Verfahren vor der deutschen Finanzgerichtsbarkeit.
2. Die RL lässt gegenüber einem Vollstreckungsersuchen die sog. Einrede der öffentlichen Ordnung zu (Art. 4 Abs. 3 RL 76/308/EWG). Das bedeutet freilich schwerlich, dass der Mitgliedstaat, in dem vollstreckt werden soll, das Verfahren des ersuchenden Mitgliedstaats zu überprüfen und danach zu beurteilen hat, ob es nach den Grundsätzen oder gar den einzelnen Regelungen seines eigenen (im Streitfall: des deutschen) Rechts den Belangen des Vollstreckungsschuldners hinreichend Rechnung trägt; also mit anderen Worten: der Vollstreckungstitel so auch in Deutschland hätte zustande kommen und Bestandskraft erlangen können. Die genannte Klausel der RL will vielmehr lediglich sicherstellen, dass kein Mitgliedstaat gezwungen ist, einen Titel zu vollstrecken, dessen Zustandekommen mit grundlegenden Prinzipien der eigenen Rechts- und Werteordnung schlechterdings unvereinbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 11.05.2000, C-38/98, Slg. 2000, I-2973). Dabei ist der Begriff des ordre public zwar zweifellos ein unionsrechtlicher, der jedoch auf das jeweilige nationale Rechtverständnis verweist, dessen "Grundempfindlichkeiten" er schützen und respektieren will.
Wenn das System der gegenseitigen Vollstreckungshilfe in (einem größer und vielfältiger gewordenen) Europa funktionieren soll, w...