Leitsatz
Das FA kann aufgrund der Feststellungslast die Änderung eines Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht mit der Begründung ablehnen, es bestünden wegen Fehlens der Steuerakten Unklarheiten über die im ursprünglichen Folgebescheid angesetzten Besteuerungsgrundlagen, wenn die Ursachen für die Unklarheiten der Finanzverwaltung zuzurechnen sind.
Normenkette
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO
Sachverhalt
Der Kläger war im Streitjahr 1975 Kommanditist einer seit langem vollbeendeten KG (Abschreibungsgesellschaft). Im ursprünglichen Gewinnfeststellungsbescheid 1975 betreffend die KG hatte das zuständige Betriebs-FA einen Veräußerungsgewinn des Klägers i.H.v. 40 975 DM festgestellt. Dieser die KG betreffende Gewinnfeststellungsbescheid war von einem anderen (ehemaligen) Kommanditisten angefochten worden. Nach einem langjährigen Rechtsstreit wurde der ursprüngliche Gewinnfeststellungsbescheid 1975 betreffend die KG geändert. Unter anderem wurde darin auch der auf den Kläger entfallende Veräußerungsgewinn auf 0 DM herabgesetzt.
Der Kläger, der ebenso wie sein Wohnsitz-FA (FA) über keinerlei Unterlagen und Akten betreffend die ESt 1975 mehr verfügte, beantragte nunmehr unter Hinweis auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, einen ESt-Änderungsbescheid für 1975 zu erlassen, worin der ursprünglich festgesetzte Veräußerungsgewinn i.H.v. 40 975 DM von einem geschätzten zu versteuernden Einkommen i.H.v. 150 000 DM abgezogen werden solle.
Das FA lehnte dies ab. Das FG bestätigte die Verwaltungsentscheidung (EFG 2007, 1481). Die dagegen gerichtete Revision des Klägers hatte Erfolg. Der BFH hob die Vorentscheidung auf und verwies die Sache an das FG zurück.
Entscheidung
In der vorstehenden besonderen Konstellation finde die Beweislastgrundregel, nach der der Steuerpflichtige die objektive Beweislast in Bezug auf steuermindernde und -entlastende Tatsachen trage, keine Anwendung. Das für die ESt-Veranlagung zuständige FA hätte die ESt-Akten nicht vernichten dürfen, sondern im Hinblick auf das von einem anderen Feststellungsbeteiligten gegen den Gewinnfeststellungsbescheid 1975 betreffend die KG angestrengte Rechtsbehelfsverfahren aufbewahren müssen. Hierbei müsse sich das FA zurechnen lassen, dass es vom Betriebs-FA -- pflichtwidrig -- nicht über das gegen den ursprünglichen Gewinnfeststellungsbescheid 1975 anhängige Einspruchs- und Klageverfahren informiert worden sei. Außerdem habe es das Betriebs-FA (rechtsirrig) versäumt, den Kläger gem. § 360 Abs. 3 AO zum Einspruchsverfahren betreffend den ursprünglichen Gewinnfeststellungsbescheid 1975 hinzuzuziehen. Die Ursachen für die Vernichtung sowohl der Steuerunterlagen des Klägers als auch der Einkommensteuerakten des FA für das Streitjahr 1975 seien somit in der Sphäre der Verwaltung zu finden.
Mangels Spruchreife müsse der Rechtsstreit an das FG zurückverwiesen werden. Das FG werde nunmehr das zu versteuernde Einkommen des Klägers im Jahr 1975 unter Berücksichtigung eines Veräußerungsgewinns aus der KG-Beteiligung i.H.v. 49 975 DM zu schätzen und der so ermittelten ESt die Steuerbelastung beim Ansatz eines Veräußerungsgewinns von 0 DM gegenüberzustellen haben.
Hinweis
Nach der sog. Beweislastgrundregel trifft die Feststellungslast (= objektive Beweislast) denjenigen, der sich auf eine für ihn günstige Tatsache beruft. Danach trägt das FA grundsätzlich die objektive Beweislast für die steuerbegründenden und -erhöhenden Tatsachen, der Steuerpflichtige hingegen die Feststellungslast für die steuerentlastenden und -mindernden Tatsachen (BFH, Urteil vom 25.07.2000, IX R 93/97, BFH-PR 2001, 28).
In besonderen Fällen hat die Rechtsprechung eine Abweichung von dieser Beweislastgrundregel befürwortet (vgl. z.B. BFH, Urteil vom 20.01.1998, VII R 57/97, BFH/NV 1998, 893, betr. Nichterweislichkeit einer Tatsache, die im alleinigen Willens- und Wissensbereich des Steuerpflichtigen liegt; BFH, Urteil vom 22.09.2004, III R 9/03, BFH-PR 2005, 61, betr. Verletzung der Mitwirkungspflicht nach § 90 AO). So kann bei atypischen Geschehensabläufen -- wie dem im Streitfall gegebenen -- für die Beweislastverteilung relevant sein, in wessen Verantwortungssphäre und Risikobereich sich dieser Geschehensablauf ereignet (vgl. z.B. BFH, Urteil vom 23.01.2002, XI R 55/00, BFH/NV 2002, 1009, m.w.N. aus der Rechtsprechung und Literatur).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 28.11.2007, X R 11/07