Leitsatz
1. Das FG darf die Urkunde über die vorgerichtliche Vernehmung eines seinerzeit ordnungsgemäß belehrten Zeugen auch dann verwerten, wenn der Zeuge sich vor dem FG auf ein Auskunftsverweigerungsrecht beruft (Abweichung vom BFH-Urteil vom 14.02.1963 – V 102/60, HFR 1963, 379).
2. Wenn das FG Bareinzahlungen auf Bankkonten des Steuerpflichtigen als Ausgangsgröße für die Schätzung nicht erklärter Betriebseinnahmen heranzieht, darf es solche Bareinzahlungen, die der Steuerpflichtige nach der eigenen Würdigung des FG ausreichend und nachvollziehbar erläutert hat, nicht zugleich als "Schwarzeinnahmen" und damit als zusätzliche Betriebseinnahmen ansehen.
Normenkette
§ 82 ZPO, § 84 FGO, § 101, § 162 AO
Sachverhalt
Der Kläger K war als ausgebildeter Stuckateur als Arbeitnehmer tätig. Sein Bruder B teilte der Zollbehörde in einer Anzeige – nach Belehrung über sein Auskunftsverweigerungsrecht – mit, K sei seit Jahren auch gewerblich als Stuckateur tätig gewesen, ohne seine Einkünfte zu versteuern. Die Steuerfahndungsprüfung führte zu einer Schätzung der nicht erklärten Einnahmen aufgrund einer Bargeldverkehrsrechnung. In dem Klageverfahren behauptete K, die Anzeige des B beruhe auf Erbstreitigkeiten; seine Behauptungen seien inhaltlich unzutreffend. Das FG lud B als Zeugen zur mündlichen Verhandlung. Dieser machte dort von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Die Klage des K hatte nur zum Teil Erfolg. Das FG hielt zwar die vom FA vorgenommene Bargeldverkehrsrechnung nicht für geeignet, um eine Schätzungsbefugnis dem Grunde nach zu begründen. Der Schluss auf eine gewerbliche Tätigkeit des Klägers sei aber u.a. aufgrund der vorgerichtlichen Aussagen des B gerechtfertigt gewesen (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 9.5.2018, 2 K 2014/17, Haufe-Index 13030182, EFG 2019, 692; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 9.5.2018, 2 K 2160/17, Haufe-Index 13030183; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 9.5.2018, 2 K 2220/17, Haufe-Index 13030184).
Entscheidung
Die Revision führte zur Zurückverweisung des Verfahrens, da die vom FG zur Herleitung der Höhe der Schätzung angestellten Erwägungen teilweise widersprüchlich und lückenhaft waren.
Hinweis
Der Grund dafür, dass der X. Senat dieses Urteil zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen hat, ist dem 1. Leitsatz zu entnehmen. In dem Besprechungsurteil wird eine alte, eigentlich sogar veraltete Rechtsprechung des V. Senats aus der Zeit vor Inkrafttreten der AO aufgegeben, die sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum zunehmend kritisch gesehen wurde.
1. Der BFH hatte in seinem Urteil (BFH, Urteil vom 14.2.1963, V 102/60, HFR 1963, 379) zum Auskunftsverweigerungsrecht bei Gefahr eigener Strafverfolgung gemäß § 176 RAO entschieden, dass frühere Aussagen, die ein Zeuge vor einem vernehmenden Beamten oder ohne Belehrung vor einem Richter gemacht hatte, nach einer späteren Berufung auf das Auskunftsverweigerungsrecht nicht verwertet werden dürfen. Dabei hatte sich der BFH insbesondere auf § 252 StPO berufen. Diese Vorschrift ordnet für den Bereich des Strafprozesses an, dass die Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch macht, nicht verlesen werden darf.
2. Demgegenüber ist der X. Senat der Ansicht, dass kein Verwertungsverbot eingreift, wenn ein Angehöriger des Steuerpflichtigen vorgerichtlich z.B. durch die Steuerfahndung oder eine Zollbehörde vernommen wird und er sich später vor dem FG auf sein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 101 AO (oder auch nach § 103 AO) beruft.
Grund ist, dass die – im finanzgerichtlichen Verfahren gemäß §§ 82, 84 FGO anzuwendenden – Vorschriften der ZPO über den Zeugenbeweis und der AO über die Auskunftsverweigerungsrechte keine Regelung enthalten, die der des § 252 StPO entspricht. Wenn aber für eine bestimmte prozessuale Situation, die in allen Prozessarten gleichermaßen eintreten kann, ausschließlich in der StPO, nicht jedoch in den anderen Verfahrensordnungen ein Verwertungsverbot angeordnet worden ist, lässt dies – so der BFH – nur den Schluss zu, dass der Gesetzgeber die Problematik zwar kannte, er indes bewusst von einer Erstreckung der strafprozessualen Spezialregelung auf die anderen Verfahrensordnungen abgesehen hat.
Vor allem ist aber darauf hinzuweisen, dass es zu der Zeit, als die Entscheidung des V. Senats in HFR 1963, 379 ergangen ist, für nichtrichterliche Vernehmungen in der RAO keine Norm gab, die eine Belehrung des Zeugen über sein Auskunftsverweigerungsrecht vorgesehen hätte. Dies hat sich durch § 101 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AO und § 103 Sätze 2 und 3 AO geändert.
3. Der X. Senat konnte ohne Divergenzanfrage bei dem V. Senat und Anrufung des Großen Senats über diese Rechtsfrage entscheiden, da § 11 FGO nicht anzuwenden ist, wenn sich die Rechtslage durch eine gesetzliche Neuregelung grundlegend geändert hat. Dies ist hier gegeben, weil § 101 AO – anders als § 176 RAO – eine gesetzliche Belehrungspflicht auch für nichtrichterliche Vernehmungen vorsieh...