1.1 Voraussetzungen

Als allgemeine Voraussetzungen für eine Verwirkung haben sich im Steuerrecht durch Entscheidungen die folgenden drei Voraussetzungen herausgebildet[1]:

  • Es muss ein beachtsamer Zeitablauf gegeben sein.
  • Es muss seitens der Finanzverwaltung ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden sein.
  • Der Steuerpflichtige muss aufgrund des Vertrauenstatbestands Dispositionen getroffen haben.

Teilweise werden als weitere Voraussetzungen die Rechtskenntnis und Rechtsausübungsmöglichkeit sowie ein Verstoß gegen Treu und Glauben im jeweiligen Einzelfall genannt.[2] Diese weiteren Voraussetzungen sind indes nicht erforderlich, da die Rechtskenntnis und die Rechtsausübungsmöglichkeit Untervoraussetzungen des Vertrauenstatbestandes sind, da ohne diese Kenntnis bzw. Möglichkeit ein Vertrauen seitens des Steuerpflichtigen nicht bestehen kann. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben im jeweiligen Einzelfall als besondere Voraussetzung ist zudem deswegen überflüssig, da es sich bei der Verwirkung – wie oben angeführt – stets um einen Ausfluss von Treu und Glauben handelt.[3]

Derjenige, der sich auf die Verwirkung beruft, im Regelfall der Steuerpflichtige[4], muss die Verwirkung im steuerlichen Verfahrensrecht nicht geltend gemacht haben. Die Verwirkung ist vielmehr von Amts wegen zu berücksichtigen, was sie mit der Verjährung im steuerlichen Verfahrensrecht verbindet.[5] Dies ist insofern von Bedeutung, als es insbesondere keiner Verwirkungserklärung bedarf, damit eine Verwirkung wirksam werden kann.

[1] So ausdrücklich BFH, Urteil v. 14.10.2003, VIII R 56/01, BStBl 2004 II S. 123 (125); BFH, Beschluss v. 4.7.2007, VII B 39/07, BFH/NV 2007 S. 2062; Drüen, in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 4 AO Tz. 169; Gersch, in Klein, AO, § 4 AO Tz. 43, 16. Aufl. 2022.
[2] So wohl Koenig, in Koenig, AO, § 4 AO Tz. 45, 4. Aufl. 2021.
[3] Pahlke, in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 4 AO Rz. 56; Koenig, in Koenig, AO, § 4 AO Rz. 45, 4. Aufl. 2021.
[4] Es ist indes auch denkbar, dass sich die Verwaltung auf die Verwirkung beruft; dies könnte etwa bei Rückforderungsansprüchen der Fall sein, wenngleich dies wohl eher ein theoretischer Fall sein dürfte; Drüen, in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 4 AO Tz. 176.
[5] Drüen, in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 4 AO Tz. 169.

1.2 Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

Die Verwirkung ist insbesondere abzugrenzen von der Verjährung. Mit dieser hat sie das Zeitmoment gemeinsam, gleichwohl unterscheidet sie sich von der Verjährung doch erheblich. Während bei der Verjährung nämlich nach Ablauf einer gesetzlich bestimmten Frist im Steuerrecht eine bestimmte Folge eintritt, nämlich das Erlöschen des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis (vgl. § 47 AO), müssen bei einer Verwirkung weitere Voraussetzungen erfüllt sein.[1] Insbesondere das Vertrauen, welches bei der Verwirkung von zentraler Bedeutung ist, spielt bei der Verjährung keine Rolle. Zudem sind die Rechtsfolgen andere, da die Verwirkung nicht zum Erlöschen des Anspruchs führt.

Von einem stillschweigenden Verzicht unterscheidet sich die Verwirkung hingegen, dass es bei einem solchen stets einer – wenn auch stillschweigenden – Zustimmung des Betroffenen bedarf. Demgegenüber kann eine Verwirkung auch gegen den Willen des Betroffenen – im Steuerrecht meist der Finanzverwaltung – in Betracht kommen.

[1] Banniza, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, vor § 169 AO Tz. 4.

1.3 Gegenstand der Verwirkung

Verwirkt werden können nur Rechte und Befugnisse aus dem Steuerschuldverhältnis.[1] Dies kann insbesondere materielle Rechte, aber auch Verfahrensrechte im Festsetzungs-, Einspruchs- oder finanzgerichtlichen Klageverfahren betreffen.[2] Eine Verwirkung kommt damit grundsätzlich in allen wesentlichen Verfahrensabschnitten in Betracht.

[2] Allgemein hierzu Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Tz. 177f.

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