Leitsatz
Eine Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG setzt voraus, dass der Anspruchsteller aufgrund eines entsprechenden Antrags vom zuständigen Finanzamt nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.
Normenkette
§ 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, § 1 Abs. 3 EStG
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter von zwei minderjährigen Töchtern und seit 1988 bei einer deutschen Fluglinie als Flugbegleiterin beschäftigt. Seit 1999 lebt sie mit Ehemann und Töchtern in Italien, ist aber in der Wohnung ihrer Mutter in Deutschland mit Hauptwohnsitz gemeldet. Im Jahr 2007 hielt sie sich aufgrund ihrer Berufstätigkeit an insgesamt 53 Tagen im Inland auf, wobei sie jeweils von Italien aus nach Deutschland reiste und anschließend sofort wieder nach Italien zurückkehrte.
Die Einkommensteuererklärungen für 2005 bis 2007 gab die Klägerin unter Angabe der Adresse ihrer Mutter beim Finanzamt ab, das sie jeweils unter Annahme einer unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 1 EStG veranlagte.
Die Familienkasse hob die Festsetzung des Kindergeldes ab März 2007 auf und wies den Einspruch als unbegründet zurück.
Das FG Baden-Württemberg gab der Klage mit Urteil vom 9.2.2010, 4 K 5221/08 (Haufe-Index 2306952, EFG 2010, 886) für März bis Dezember 2007 statt. Ein inländischer Wohnsitz habe nicht bestanden, aber § 62 Abs. 1 Nr. 2b EStG setze keine Behandlung i.S.d. § 1 Abs. 3 EStG im Besteuerungsverfahren voraus.
Entscheidung
Der BFH widersprach, gab der Revision der Familienkasse statt und wies die Klage ab.
Hinweis
1. Einen Anspruch auf Kindergeld hat, wer einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder "nach § 1 Abs. 3 als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird".
2. Da es sich bei der Einkommensteuerveranlagung und der Kindergeldfestsetzung um unterschiedliche Verfahren handelt, gibt es keine Bindungswirkung zwischen Einkommensteuer- und Kindergeldbescheid. Das FA kann daher die tarifliche Einkommensteuer um einen Anspruch auf Kindergeld erhöhen, obwohl die Kindergeldfestsetzung von der Familienkasse bestandskräftig abgelehnt wurde (BFH, Urteil, vom 15.3.2012, III R 82/09, BFH/PR 2012, 278). Umgekehrt kann die Familienkasse einen inländischen Wohnsitz des Anspruchstellers verneinen, obwohl das FA von einem solchen ausgegangen war.
3. Trotz der Selbstständigkeit beider Verfahren ist die Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG von der einkommensteuerrechtlichen Behandlung des Antragstellers abhängig. Der Antrag nach § 1 Abs. 3 EStG und die entsprechende Bescheidung durch das FA sind somit Anspruchsvoraussetzungen für das Kindergeld. Dies vermeidet zahlreiche Folgeprobleme, entlastet die Familienkassen von der Anwendung des § 1 Abs. 3 EStG sowie unterschiedlichen Grenzgängerregelungen in den DBA und beugt Missbräuchen vor.
4. Obwohl zweifellos "richtig", erzeugt das Urteil ein gewisses Unbehagen: Die Grenzen des inländischen Wohnsitzes sind fließend. Die Voraussetzungen werden im Kindergeldrecht zudem tendenziell strenger gehandhabt als im Einkommensteuerrecht. Wer nun irrig, aber in doch nachvollziehbarer Weise einen inländischen Wohnsitz annimmt (den ein FA kaum infrage stellen wird) und damit sein Welteinkommen der deutschen Besteuerung unterwirft, erhält kein Kindergeld, während die u.U. günstigere, weil auf die inländischen Einkünfte beschränkte Behandlung als fiktiv unbeschränkt Steuerpflichtiger die Kindergeldberechtigung eröffnet.
5. Der BFH offeriert ein Trostpflaster für diejenigen, die kein einkommensteuerrechtliches Kindergeld erhalten, weil sie vom FA trotz tatsächlich fehlendem inländischen Wohnsitz als nach § 1 Abs. 1 EStG unbeschränkt Steuerpflichtige behandelt wurden: Bei Erfüllung der sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen kommt ein Anspruch nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKGG in Betracht, der jedoch vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit geltend zu machen wäre.
6. Übrigens: Wenn eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG erfolgt ist, wäre die bislang vom BFH noch nicht entschiedene Frage zu beantworten, ob Kindergeld im gesamten Kalenderjahr zu gewähren ist oder lediglich in den Monaten, in denen inländische Einkünfte erzielt wurden.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 24.5.2012 – III R 14/10