Leitsatz
Ist ein Entziehen der aus dem Zolllager wieder ausgeführten Drittlandswaren mit der Folge der Entstehung einer Zollschuld nach Art. 203 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 allein darin zu sehen, dass die zur Wiederausfuhr aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft bestimmten Waren nicht im unmittelbaren Anschluss an ihre Entfernung aus dem Zolllager zum externen Versandverfahren abgefertigt worden sind?
Normenkette
Art. 203 Abs. 1, 3 VO (EWG) Nr. 2913/92 , Art. 204 Abs. 1 Buchst. a VO (EWG) Nr. 2913/92 , Art. 859 Nr. 6 VO (EWG) Nr. 2454/93
Sachverhalt
In einem Zolllager eingelagerte unverzollte Waren wurden zur polnischen Grenze befördert und über diese aus der Gemeinschaft ausgeführt. Sie waren jedoch bei Entfernung aus dem Lager nicht bei der Zollbehörde abgemeldet und zum Versand im sog. externen Versandverfahren angemeldet worden. Dieses war damals im Gemeinschaftsrecht zwingend für die Beförderung von Waren zwischen der Ausfuhrzollstelle (hier: die für das Zolllager zuständige Zollstelle) und der Ausgangszollstelle (Grenzzollstelle) vorgeschrieben. Das HZA erhob deshalb Eingangsabgaben, weil die Waren während der Beförderung vom Zolllager zur Grenze der zollamtlichen Überwachung entzogen worden seien und dadurch die Zollschuld entstanden sei (Art. 203 Abs. 1 ZK).
Entscheidung
Der BFH hat Zweifel an seiner früheren "harten" Haltung bekommen und für den vorgenannten besonderen Fall eines Verstoßes gegen zollrechtliche Förmlichkeiten den EuGH befragt, ob die Zollschuld entstanden sei.
Hinweis
1. Zweifelsfragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts muss der EuGH entscheiden (Art. 234 EG-Vertrag). Das nationale Gericht leitet in diesem Fall ein Zwischenverfahren ein, indem es dem EuGH durch Beschluss die betreffende Zweifelsfrage unterbreitet. Der Beschluss ist beim BFH vom Vollsenat (fünf Richter) zu treffen, weil nur der Vollsenat abschließend beurteilen soll, ob eine Frage wirklich "zweifelhaft" (oder klar und eindeutig zu beantworten) ist. Gleichwohl können Sie im Allgemeinen damit rechnen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen des BFH auch dann ergeht, wenn nur eine Minderheit des Senats eine Frage für zweifelhaft hält.
2. Der Begriff des "Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung" hat im Zollschuldrecht gewissermaßen eine Schlüsselstellung und hatte diese schon unter der Geltung des deutschen ZG. Gleichwohl ist er im Gemeinschaftsrecht nicht definiert. In Art. 865 ZKDVO sind nur einige Fälle beschrieben, die ein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung darstellen.
Ein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung sieht der EuGH in jeder Handlung oder Unterlassung, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der vorgesehenen Prüfungen gehindert wird. Zur Annahme eines Entziehens führe daher das körperliche Fehlen der Ware am zugelassenen Lagerort zu dem Zeitpunkt, zu dem die Zollbehörde den Lagerbestand prüfen möchte. Der Zollsenat des BFH hatte den Begriff unter Geltung des ZG ähnlich streng verstanden.
3. Die Frage, was "Entziehen" ist, rührt letztlich an die altbekannte Grundsatzfrage, welche Bedeutung die Beachtung der im Zollrecht vielfach vorgeschriebenen Förmlichkeiten für das Zollschuldrecht hat: Dienen sie letztlich nur der Erleichterung der zollamtlichen Überwachung der Waren (und kann daher ungeachtet der Einhaltung der betreffenden Förmlichkeiten der Nachweis, was mit einer Ware geschehen ist, auch gleichsam durch "Freibeweis" geführt werden) oder führt ihre Nichtbeachtung grundsätzlich zum Entstehen der Zollschuld (wegen "Entziehens")?
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 17.7.2001, VII R 99/00