Leitsatz
Auch wenn ein Kindergeldantrag keine Angaben zu den Zeiträumen enthält, für die Kindergeld begehrt wird, kann er dennoch aufgrund seines objektiven Erklärungsinhalts dahin auszulegen sein, dass die Festsetzung ab dem Monat beantragt wird, in dem erstmals die für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer erforderlichen ausländerrechtlichen Voraussetzungen vorliegen.
Normenkette
§ 31 Satz 3, § 62 Abs. 2 EStG 1997, § 155 Abs. 4, § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 171 Abs. 3 AO, § 15 AuslG 1990, § 133, § 157 BGB
Sachverhalt
Der aus Vietnam stammende Kläger war seit dem 17.11.1997 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Unter Verwendung des amtlichen Vordrucks beantragte er am 20.11.1997 die Festsetzung von Kindergeld und fügte eine Kopie der Aufenthaltserlaubnis bei (§ 15 AuslG 1990). Die Familienkasse zahlte das Kindergeld aufgrund einer Kassenanordnung ab November 1997 aus. Ein ausdrücklicher Festsetzungsbescheid unterblieb.
Mit Schreiben vom 20.7.2008 beantragte der Kläger die Festsetzung von Kindergeld für September 1993 bis November 1997 unter Hinweis auf den BVerfG-Beschluss vom 6.7.2004, 1 BvL 4/97 (BVerfGE 111, 160), durch den die Verfassungswidrigkeit der Regelung der Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer in § 1 Abs. 3 BKKG festgestellt wurde, der mit der früheren einkommensteuerrechtlichen Regelung nahezu wortgleich war.
Die Familienkasse lehnte eine nachträgliche Festsetzung ab. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Niedersächsische FG (Urteil vom 29.4.2010, 14 K 104/09, Haufe-Index 2552315) sah von einer einschränkenden Auslegung des Kindergeldantrags ab. Es interpretierte aber die Kindergeldgewährung ab November 1997 als Ablehnung für den davor liegenden Zeitraum.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück. Da der Kläger für die Zeit vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis kein Kindergeld beantragt hatte, brauchte die Zahlung ab November 1997 nicht als Ablehnungsbescheid für davor liegende Monate ausgelegt werden.
Hinweis
1. Im Ertrag- und Umsatzsteuerrecht bestehen kaum je Zweifel, welche Zeiträume die Erklärungen und Anträge des Steuerpflichtigen oder die Bescheide der Behörde betreffen. Dies ist im Kindergeldrecht anders, weil das amtliche Antragsformular keine zeitliche Einschränkung vorsieht und Kindergeld durch Dauer-VA festgesetzt wird. Bis 2006 konnte die Familienkasse zudem von der Erteilung eines schriftlichen Kindergeldbescheids u.a. dann absehen, wenn sie dem Antrag entsprach (§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG a.F.).
2. Kindergeld wird als Steuervergütung gezahlt (§ 31 Satz 3 EStG) und unterliegt daher der Festsetzungsverjährung. Weil es nach Ablauf von vier Jahren nicht mehr festgesetzt werden darf (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO), kann sich dann die Frage stellen, ob der Ablauf der Verjährungsfrist durch einen noch nicht beschiedenen Antrag nach § 171 Abs. 3 AO gehemmt wurde.
3. In seinem Urteil vom 22.12.2011, III R 41/07 (Haufe-Index 2946096) hatte der BFH darauf hingewiesen, dass von einem noch nicht beschiedenen Antrag auf Kindergeld auszugehen sei, wenn der Kindergeldberechtigte im finanzgerichtlichen Verfahren zum Ausdruck bringt, Kindergeld auch für einen nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung liegenden Zeitraum erhalten zu wollen. Der BFH zeigte sich damit einem Kläger gegenüber großzügig, dem die Erforderlichkeit eines weiteren Kindergeldantrags für die Monate ab Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung nicht bewusst war.
4.Im Besprechungsurteil entschied der BFH dagegen zulasten des Klägers, der seinen Kindergeldanspruch mit fast elf Jahren Verzögerung "entdeckt" hatte:
- Die Familienkassen haben einen Antrag auf Kindergeld, der keine zeitliche Einschränkung enthält, grundsätzlich umfassend und damit auch für die Vergangenheit zu prüfen.
- Auch ein Antrag ohne zeitliche Einschränkung kann hinsichtlich des Zeitraums, für den Kindergeld begehrt wird, ausgelegt werden (§§ 133, 157 BGB). Bei der Auslegung kann auch auf Umstände zurückgegriffen werden, die außerhalb der auszulegenden Erklärung liegen.
- Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer hatte nach dem 1997 geltenden Wortlaut des § 62 EStG nur dann Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis war. Wird dem Antrag eine Kopie der kurz zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis beigefügt, so kann die Familienkasse dies nur so verstehen, dass lediglich für die Monate ab Erfüllung der ausländerrechtlichen Voraussetzungen Kindergeld beantragt wird und nicht auch für die Zeit davor.
5. Die Entscheidung dürfte auf andere Sachverhalte übertragbar sein, in denen ebenfalls ein Antrag mit dem Nachweis einer soeben begründeten Anspruchsberechtigung verbunden wird (z.B. Begründung eines inländischen Wohnsitzes oder Begründung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 2 EStG).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 9.2.2012, III R 45/10