Leitsatz
1. Eine Aufbewahrung von Tagessummen-Belegen mit Einzelaufzeichnung der Erlöse und Summenbildung kann, sofern im Betrieb keine weiteren Ursprungsaufzeichnungen angefallen sind, in Fällen der Einnahmen-Überschuss-Rechnung und Verwendung einer offenen Ladenkasse bei Anlegung des im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfungsmaßstabs den formellen Anforderungen an die Aufzeichnungen genügen.
2. Die Rechtsprechung, wonach Einzelaufzeichnungen der Erlöse in bestimmten Fällen aus Zumutbarkeitsgründen nicht geführt werden müssen, ist nicht auf Einzelhändler beschränkt, sondern kann auch auf Klein-Dienstleister anwendbar sein.
3. Die Anforderungen, die der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung an die Durchführung eines Zeitreihenvergleichs gestellt hat (Urteil vom 25. März 2015, X R 20/13, BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743), gelten bei summarischer Betrachtung auch dann, wenn die Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs durch Vornahme einer Quantilsschätzung zur Begründung der Schätzungshöhe herangezogen werden.
4. Eine während des Prüfungszeitraums vorgenommene Preiserhöhung um 26 % schließt es im Regelfall aus, einen durchgehenden Zeitreihenvergleich für die Zeit vor und nach der Preiserhöhung vorzunehmen.
5. Es ist bisher nicht geklärt, ob die monatlichen Rohgewinnaufschlagsätze, die von der Software der Finanzverwaltung geschätzt werden, der Gauß’schen Normalverteilung folgen, und ob die in einem üblichen Prüfungszeitraum (drei Jahre mit 36 Monats-Einzelwerten) erhobene Grundgesamtheit groß genug für die Anwendung der bei einer Gauß’schen Normalverteilung geltenden Gesetzmäßigkeiten ist.
6. Es ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn ein Gericht nicht darauf hinweist, dass eine bei ihm sechs Arbeitstage vor Fristablauf eingereichte Rechtsmittelschrift nicht unterschrieben ist.
Normenkette
§ 146 Abs. 1, § 162 Abs. 1, Abs. 2 AO, § 4 Abs. 3 EStG, § 56 FGO
Sachverhalt
Der Antragsteller ist Gastwirt, zudem richtet er Familienfeiern aus und beteiligt sich an dem örtlichen Volksfest. Seine Einnahmen vereinnahmt er in einer offenen Ladenkasse. Der Betriebsprüfer war der Auffassung, die Kassenführung sei nicht ordnungsgemäß, da die vollständige Erfassung der Bareinnahmen nicht überprüfbar sei, und ermittelte die Höhe der Hinzuschätzung mittels der sog. "Quantilsschätzung", wobei er zunächst einen Zeitreihenvergleich durchführte. Der gegen die geänderten Steuerbescheide gerichtete AdV-Antrag hatte beim FA und auch beim FG nur zu einem kleinen Teil Erfolg (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9.1.2017, 4 V 4265/15, Haufe-Index 10458536).
Entscheidung
Die Beschwerde des Antragstellers war größtenteils begründet. Der BFH konnte bei der gebotenen summarischen Betrachtung nicht feststellen, dass die Aufzeichnungen über die Einnahmen des laufenden Gaststättenbetriebs die geltenden formellen Anforderungen verletzten. Wegen der formellen Aufzeichnungsmängel in den anderen beiden Tätigkeitsbereichen nahm er eine eigene Schätzung vor.
Hinweis
In diesem sehr ausführlich begründeten Aussetzungsbeschluss nimmt der X. Senat erstmals im Rahmen der gebotenen summarischen Betrachtung in einem AdV-Verfahren zu den Grenzen der digitalen Betriebsprüfung, insbesondere zur Zulässigkeit einer Quantilsschätzung Stellung.
1. Demzufolge gelten die in der Rechtsprechung des X. Senats entwickelten Anforderungen an die Durchführung eines Zeitreihenvergleichs (s. vor allem BFH, Urteil vom 25.3.2015, X R 20/13, BFH/NV 2015, 1277, BFH/PR 2015, 359, BStBl II 2015, 743) bei summarischer Betrachtung auch dann, wenn die Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs durch Vornahme einer Quantilsschätzung zur Begründung der Schätzungshöhe herangezogen werden.
2. Der Zeitreihenvergleich und damit auch die Quantilsschätzung sind in Fällen, in denen keine materiellen Mängel der Aufzeichnungen feststellbar sind, grundsätzlich nachrangig zu anderen Schätzungsmethoden.
3. Steht hingegen fest, dass die Buchführung nicht nur formell, sondern auch materiell unrichtig ist, und übersteigt die Unrichtigkeit eine von den Umständen des Einzelfalls abhängige Bagatellschwelle, können die Ergebnisse eines – technisch korrekt durchgeführten – Zeitreihenvergleichs bzw. einer Quantilsschätzung auch für die Ermittlung der erforderlichen Hinzuschätzung der Höhe nach herangezogen werden, sofern sich im Einzelfall keine andere Schätzungsmethode aufdrängt, die tendenziell zu genaueren Ergebnissen führt und mit vertretbarem Aufwand einsetzbar ist.
In Bezug auf die anderen angesprochenen Aspekte kann auf die ebenfalls ausführlichen Leitsätze verwiesen werden.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 12.07.2017, X B 16/17