Prof. Dr. Bernd Heuermann
Leitsatz
Erklärt der Berichterstatter ausdrücklich auch im Namen seiner Senatskollegen im Rahmen mehrerer eingehend begründeter Berichterstatterschreiben, die Klage werde Erfolg haben, so stellt es eine Verletzung des rechtlichen Gehörs wie auch der Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren dar, wenn das FG die Klage nach einem Wechsel des Berichterstatters ohne einen entsprechenden Hinweis an den Kläger abweist.
Normenkette
Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO, § 163 AO, § 22 Nr. 3 EStG
Sachverhalt
A kassierte in den Jahren 1996 bis 1998 als Bereichsleiter einer Immobiliengesellschaft erhebliche Schmiergelder, die er steuerlich nicht erklärte. Im Jahr 2000 musste er die Beträge im Rahmen eines Strafverfahrens an seine Arbeitgeberin abführen. Das FA änderte die ESt-Bescheide und erfasste die Schmiergelder 1996 bis 1998 als sonstige Einkünfte (§ 22 Nr. 3 EStG). Im Jahr 2000 setzte es die Rückzahlung an die Arbeitgeberin als Werbungskosten ab. Das führte zu einem Verlust, der sich allerdings im Jahr 2000 nicht auswirkte (Verlustverrechnungsbeschränkung!) und der nach Rücktrag in das Jahr 1999 als verbleibender Verlust (i.H.v. 2,2 Mio.) gesondert festgestellt wurde.
A begehrt in diesem Verfahren, im Billigkeitsweg vom Zu- und Abflussprinzip abzusehen (§ 163 AO wegen der erheblichen Progressions- und Regressionswirkungen). Nach Ablehnung des Antrags durch das FA kam es während des finanzgerichtlichen Verfahrens zur Erörterung dieses Falls. Im Termin kamen die Beteiligten überein, dass ihnen eine ausführliche rechtliche Einschätzung des erkennenden Senats durch ein Berichterstatterschreiben mitgeteilt werden sollte.
Der Berichterstatter schrieb den Beteiligten sodann seine "mit den übrigen Senatsmitgliedern abgestimmte" rechtliche Einschätzung, "nach der eine Entscheidung nur dahingehend lauten könnte, dass die angegriffene Entscheidung aufgehoben und das FA verurteilt werde, den Erlassantrag erneut zu bescheiden". Die Beteiligten verzichteten dann auf mündliche Verhandlung, und nachdem der Berichterstatter wechselte entschied das FG (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.09.2006, 7 K 71/02, Haufe-Index 1746074, EFG 2007, 1137) ohne weiteren Hinweis und ohne mündliche Verhandlung durch Klageabweisung!
Entscheidung
Diese (unfaire) Entscheidung hob der BFH auf und verwies die Sache an das FG zurück.
Hinweis
Das eigentliche Interessante an diesem Fall ist, dass der Sachverhalt in jeder Hinsicht und natürlich auch verfahrensrechtlich außergewöhnlich liegt. Deshalb auch die lange Erzählung im "Fall", deren Lektüre vor den Hinweisen empfohlen wird.
1.Grundsätzlich muss der in seiner Entscheidung freie Vollsenat im Rahmen einer mündlichen Verhandlung nicht darauf hinweisen, dass er möglicherweise eine Rechtsansicht vertrete, die von einer vor der Entscheidung des Senats bekundeten Auffassung des Berichterstatters abweiche. Auch lässt ein Wechsel in der Besetzung des Gerichts die Wirksamkeit eines zuvor erklärten Verzichts auf mündliche Verhandlung grundsätzlich unberührt.
2. Hier lag dem BFH ein bemerkenswerter Ausnahmefall vor, sodass er eine unzulässige Überraschungsentscheidung annehmen musste. Denn hier hatte sich der frühere Berichterstatter nicht nur im Erörterungstermin, sondern ausdrücklich auch im Namen des Senats in zwei weiteren Berichterstatterschreiben mit umfangreicher verfassungsrechtlicher wie einfachrechtlicher Begründung dahin geäußert, dass die Klage Erfolg haben müsse.
Wenn vor diesem Hintergrund das FG – nachdem der Berichterstatter gewechselt hat – im Widerspruch zu diesen Schreiben, die Klage ohne einen Hinweis im schriftlichen Verfahren abweist, so verletzt es den Anspruch auf rechtliches Gehör und verkennt die Anforderungen an ein faires Verfahren.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 11.11.2008 – IX R 14/07