Leitsatz
1. Art. 18 Abs. 4 der 6. EG-RL und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen entgegen, die – um die notwendigen Kontrollen zur Verhinderung von Steuerumgehungen und -hinterziehungen zu ermöglichen – ab der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung laufende Frist, über die die Finanzverwaltung für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses an eine bestimmte Kategorie von Steuerpflichtigen verfügt, von 60 Tagen auf 180 Tage verlängert, sofern die entsprechenden Steuerpflichtigen nicht eine Kaution i.H.v. 250 000 PLN stellen.
2. Bestimmungen wie die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden sind keine "abweichenden Sondermaßnahmen" zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen i.S.v. Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-RL i.d.F. der RL 2005/92.
Normenkette
Art. 18 Abs. 4, Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-RL
Sachverhalt
Die Klägerin hatte in der Gründungsphase des Unternehmens Vorsteuerbeträge geltend gemacht und die längere Erstattungsfrist nicht durch eine Kaution abwenden können.
Entscheidung
Der EuGH hielt die Regelung für unverhältnismäßig, nicht zuletzt auch deshalb, weil nach der polnischen Regelung auch für den "Normalfall" zur Klärung von Zweifeln an der Berechtigung der geltend gemachten Vorsteuer die reguläre Erstattungsfrist verlängert werden konnte. Auch die Möglichkeit, durch Kaution die "Normalfrist" zu erreichen, hielt er für unverhältnismäßig, weil Unternehmen, die gerade erst mit ihren Tätigkeiten beginnen und deshalb nicht unbedingt über umfassende Ressourcen verfügen, dadurch ein nicht zu vernachlässigendes finanzielles Risiko aufgebürdet werde und überdies die Kaution sogar höher sein konnte, als der Betrag des fraglichen Mehrwertsteuerüberschusses.
Hinweis
Die Entscheidung ist (nur) deshalb von Bedeutung, weil sie die Grenzen der den Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen erlaubten Sondermaßnahmen konkretisiert.
Nach Art. 18 Abs. 4 Unterabs. 1 der 6. EG-RL können die Mitgliedstaaten bei einem Vorsteuerüberschuss den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder ihn nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten. Zur Vereinfachung der Steuererhebung und zur Vermeidung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen können die Mitgliedstaaten nach Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-RL – allerdings erst nach vorheriger (!) Genehmigung durch den Rat – Sondermaßnahmen erlassen, die aber den Gesamtbetrag der von dem Mitgliedstaat im Stadium des Endverbrauchs erhobenen Steuer nur in unerheblichem Maße beeinflussen dürfen. Das polnische UStG sah – vereinfacht dargestellt – für die Erstattung eines Vorsteuerüberschusses bei Steuerpflichtigen, die ihre Tätigkeit begonnen hatten, eine 3-mal längere Frist nach Abgabe der Steuererklärung vor, die durch Zahlung einer Kaution auf die "Normalfrist" vermindert werden konnte.
Das hielt der EuGH für unzulässig. Das Recht zum Vorsteuerabzug sei ein fundamentaler Grundsatz des durch das Gemeinschaftsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, der grundsätzlich nicht eingeschränkt werden dürfe. Insbesondere dürfe er für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden. Kann ein Vorsteuerüberschuss nicht mit der Mehrwertsteuer des betreffenden Zeitraums verrechnet werden, können die Mitgliedstaaten den Überschuss nach Art. 18 Abs. 4 der 6. EG-RL entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder ihn nach den von ihnen festgelegten Einzelheiten erstatten.
Bei der letzten Möglichkeit, um die es im Verfahren allein ging, haben die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH zwar einen gewissen Spielraum. Sie dürfen dabei aber den Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen, dass Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit der Vorsteuer belastet werden. Insbesondere müssen diese Einzelheiten es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Mehrwertsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen. Das bedeutet, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt und dass dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung auf jeden Fall kein finanzielles Risiko entstehen darf.
Zwar besteht ein legitimes – von der RL anerkanntes und gefördertes – Interesse der Mitgliedstaaten daran, geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen zu treffen. Diese müssen aber verhältnismäßig sein und das fundamentale Prinzip des Rechts auf Vorsteuerabzug möglichst wenig beeinträchtigen. Unverhältnismäßig ist das Hinausschieben einer Vorsteuererstattung allein im Hinblick auf eine vermutete Hinterziehungsgefahr, ohne dass der jeweilige Steuerpflichtige die Möglichkeit hätte, nachzuweisen, dass keine Steuerhinterziehung oder -umgehung vorliegt.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 10.07.2008, Rs. C-25/07 – Alicja Sosnow...