Leitsatz
1. Im Anwendungsbereich des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 ist grundsätzlich vorrangig in einem Koordinierungsverfahren zu klären, ob und in welchem Umfang ein Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen Mitgliedstaat bestand (Bestätigung der Senatsrechtsprechung).
2. Der rechtlichen Bewertung der zuständigen ausländischen Stelle hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Anspruch auf die Familienleistung ("Child Benefit") und einer möglicherweise gegenläufigen Regelung ("High Income Child Benefit Charge") ist zu folgen.
Normenkette
§ 1 Abs. 3, §§ 62 ff. EStG, Art. 68 VO Nr. 883/2004, Art. 60 VO Nr. 987/2009
Sachverhalt
Der Kläger erzielte im Streitzeitraum Einkünfte aus selbstständiger Arbeit in siebenstelliger Höhe sowie Einkünfte aus VuV und wurde mangels eines inländischen Wohnsitzes gemäß § 1 Abs. 3 EStG zur deutschen ESt veranlagt.
Im Vereinigten Königreich, wo der Kläger und seine Frau mit ihrem Kind lebten, stellten sie keinen Antrag auf Familienleistungen ("Child Benefit"), weil sie davon ausgingen, dass der ihnen zustehende Betrag im Hinblick auf das hohe Nettoeinkommen des Klägers durch eine gegenläufige Abgabe ("High Income Child Benefit Charge") aufgezehrt würde.
Auf den in Deutschland gestellten Kindergeldantrag setzte die Familienkasse Differenzkindergeld fest, wobei sie die ihrer Auffassung nach im Vereinigten Königreich zu beanspruchenden Familienleistungen abzog. Der "High Income Child Benefit Charge" wurde dabei nicht berücksichtigt.
Das FG verpflichtete die Familienkasse, für April 2013 bis September 2014 ungekürztes Kindergeld zu gewähren (Hessisches FG, Gerichtsbescheid vom 11.5.2020, 3 K 550/16). Dabei ging es davon aus, dass der Kläger und seine Frau nur in Deutschland Anspruch auf Kindergeld haben, weil der wegen der dortigen Erwerbstätigkeit grundsätzlich vorrangige Anspruch auf britisches Kindergeld durch den "High Income Child Benefit Charge" aufgezehrt würde und "faktisch deshalb ausgeschlossen" sei.
Entscheidung
Der BFH hob das FG-Urteil auf und verwies die Sache zurück. Im zweiten Rechtsgang ist das Koordinierungsverfahren durchzuführen, sofern sich die Rechtslage nicht als eindeutig und zweifelsfrei erweist. Wenn kein Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat besteht, erhält der Kläger ungekürztes deutsches Kindergeld, anderenfalls wäre die Anspruchskumulierung nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 aufzulösen.
Hinweis
FG verfahren in grenzüberschreitenden Kindergeldsachen nicht selten pragmatisch, aber im Widerspruch zu den Vorgaben des EU-Rechts.
1. Anspruch auf Kindergeld hat auch, wer ohne inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird – allerdings nur in den Monaten, in denen er Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielt.
2. Der deutsche Kindergeldanspruch kann nach Art. 68 Abs. 2 VO Nr. 883/2004 ganz oder teilweise ausgeschlossen sein, wenn in einem anderen Mitgliedstaat (konkurrierende) Ansprüche auf Familienleistungen bestehen.
Im Streitfall hatte das FG angenommen, dass Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 nicht anzuwenden ist und der Kläger nur in Deutschland Anspruch auf Kindergeld hat, weil der – wegen der dortigen Erwerbstätigkeit – grundsätzlich vorrangige Anspruch auf Kindergeld im Vereinigten Königreich, das im Streitzeitraum noch EU-Mitglied war, durch eine gegenläufige Abgabe ("High Income Child Benefit Charge") aufgezehrt würde.
3. Richtigerweise ist im Anwendungsbereich des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 grundsätzlich vorrangig das auf dem Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten basierende Koordinierungsverfahren (insb. Art. 68 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 der VO Nr. 987/2009) zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten durchzuführen. Deshalb ist im Regelfall mittels eines Auskunftsersuchens zu klären, ob und in welchem Umfang im anderen Mitgliedstaat ein Anspruch auf Familienleistungen besteht.
Ausnahmen vom Vorrang des Koordinierungsverfahrens hat der BFH bisher zugelassen, wenn das (Nicht‐)Bestehen eines Anspruchs auf Familienleistungen des anderen Mitgliedstaats unbestritten und zweifelsfrei war. Im Streitfall hatte die britische Behörde mitgeteilt, dass mangels hinreichender Informationen über einen Anspruch auf "Child Benefit" nicht entschieden werden könne; der Kläger oder seine Frau hatten Fragen der Behörde offenbar nicht beantwortet.
4. Das FG hat sich das Koordinierungsverfahren auch deshalb erspart, weil der "Child Benefit" durch eine gegenläufige Abgabe ("High Income Child Benefit Charge") aufgezehrt würde.
Das hat der BFH zum einen beanstandet, weil Voraussetzungen nicht hinreichend festgestellt waren. Da die Abgabe bei einem "taxable income" von mehr als 50.000 GBP greift, stellt sich die Frage, ob das gemäß § 1 Abs. 3 EStG der deutschen Besteuerung unterworfene Einkommen des Klägers dort ebenfalls besteuert wurde oder trotz Freistellung als "taxable income" berücksichtigt wird, oder ob der Kläger oder seine Ehefrau ...