Leitsatz
1. Abrechnungen von Krankentransport- und Rettungsdienstleistungen gegenüber Sozialversicherungsträgern, die ein Rettungsdienst (gemeinnütziger Verein) für den Träger des Rettungsdienstes und die anderen Rettungsdienste übernommen hat, können "eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen" i.S. des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL sein, wenn der Sozialversicherungsträger diese Bündelung verlangt.
2. Die Anerkennung als "Einrichtung mit sozialem Charakter" i.S. des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL auch bezüglich solcher Abrechnungsleistungen kann darin liegen, dass der Sozialversicherungsträger ein solches Abrechnungsverfahren von den Leistungserbringern verlangt und entsprechende Vereinbarungen geschlossen werden, die auf gesetzlicher Grundlage beruhen.
Normenkette
Art. 132 Abs. 1 Buchst. g, Art. 134 Buchst. b EGRL 112/2006 (= MwStSystRL)
Sachverhalt
Im Land Mecklenburg-Vorpommern sind die Landkreise Träger des öffentlichen Rettungsdienstes. Sie dürfen die Durchführung u.a. auf juristische Personen des Privatrechts übertragen, die ihre Leistungsfähigkeit nachgewiesen haben. Die Übertragung erfolgt durch öffentlich-rechtlichen Vertrag.
Der Kläger ist ein anerkannter Verband der freien Wohlfahrtspflege. Seit dem Jahr 1995 ist er als Leistungserbringer im Rettungsdienst tätig. Dies ist in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag zwischen dem Landkreis und dem Kläger geregelt.
Gemäß einer Zusatzvereinbarung aus dem Jahr 1998 wickelte der Kläger die Abrechnung seiner Rettungsdienstleistungen selbstständig mit den Kostenträgern ab.
Im Jahr 2012 verlangten die Kostenträger, dass aus Kostengründen in jedem Landkreis nur noch eine Abrechnungsstelle vorgehalten wird. Vor diesem Hintergrund wurde der Vertrag zwischen dem Landkreis und dem Kläger dahin gehend erweitert, dass der Kläger – neben der Abrechnung seiner eigenen Einsätze – auch die Abrechnungen der Einsätze für vier andere Leistungserbringer in den Bereichen Rettungsdienst und Krankentransport gegenüber den Kostenträgern durchführt. Dazu bestehen jeweils dreiseitige Vereinbarungen zwischen dem Landkreis, dem Kläger und dem jeweiligen anderen Leistungserbringer. Die Abrechnung des Rettungsdienstes erfolgt ausdrücklich im Auftrag des Landkreises (zum Teil unter Einsatz von Personal, das der Landkreis dem Kläger zur Verfügung stellt).
Das FA vertrat nach einer Außenprüfung im Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für das Jahr 2012 die Auffassung, dass die Abrechnungsleistungen des Klägers für andere Leistungserbringer gegenüber den Kostenträgern umsatzsteuerpflichtig seien.
Die Vorinstanz (FG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 28.8.2019, 3 K 114/15, Haufe-Index 13542437, EFG 2020, 140) wies die Klage ab.
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung auf und verwies den Rechtsstreit an das FG zurück. Er sah auch die Abrechnungsleistungen des Klägers für Einsätze der anderen Leistungserbringer als nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL umsatzsteuerfrei an.
Hinweis
1. Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL befreien die Mitgliedstaaten u.a. eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen, die durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden, von der USt. Die Steuerbefreiung knüpft also an sachliche und personelle Voraussetzungen an.
2. Soweit der BFH bisher für eine eng mit der Sozialfürsorge verbundene Dienstleistung verlangt hat, dass diese unmittelbar gegenüber der hilfsbedürftigen Person erbracht werden muss (vgl. BFH-Urteil vom 1.12.2010, XI R 46/08, BFH/NV 2011, 712), ist durch das EuGH-Urteil Finanzamt D vom 8.10.2020, C-657/19 (EU:C:2020:811), geklärt, dass die Steuerbefreiung nicht davon abhängt, an wen diese erbracht wird, sofern sie einen für die Durchführung der Maßnahmen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unerlässlichen Schritt darstellt und ihre Belastung mit der Mehrwertsteuer daher zwangsläufig dazu führen würde, die Kosten der genannten Umsätze zu erhöhen. Der BFH hat im Besprechungsurteil diese Sichtweise übernommen.
Aufnahme des Verfahrens nach Erlass der EuGH-Entscheidung
Das Verfahren hatte bis zum Ergehen des EuGH-Urteils Finanzamt D vom 8.10.2020, C-657/19 (EU:C:2020:811) geruht. Siehe dazu auch die Revisionsverfahren XI R 30/20 und XI R 31/20.
3. Der Grundsatz, dass allgemeine Geschäftsführungs- und Verwaltungsleistungen grundsätzlich steuerpflichtig sind (vgl. BFH, Urteil vom 23.7.2009, V R 93/07, BStBl II 2015, 735, Rz. 34; BFH, Urteil vom 7.12.2016, XI R 5/15, BFH/NV 2017, 863, Rz. 24), steht im Streitfall der Steuerbefreiung ausnahmsweise nicht entgegen; denn der Kläger ist ein vom Mitgliedstaat Deutschland anerkannter Rettungsdienst und die Aufgabenübertragung erfolgte auf gesetzlicher Grundlage. Durch die Steuerbefreiung drohen auch keine Wettbewerbsverzerrungen, da nach den Vorgaben der Sozialleistungsträger nur eine Abrechnungsstelle d...